Zu viele Möglichkeiten

 

Das Leben ist keine Wissenschaft

Die Welt von Wissenschaft und Technik zeichnet sich dadurch aus, dass man im Voraus weiß, was passieren wird. Man kann berechnen, wie lange ein Apfel braucht, um vom Baum zu fallen oder wie groß die Flügel eines Jumbos sein müssen, damit der auch fliegt. Dennoch gibt es erstaunlich einfache Dinge, die sich wissenschaftlicher Vorhersage entziehen. Der bei Kindern und Gamblern so beliebte Würfel, mit unterschiedlich vielen Augen auf jeder Seite, ist so ein Ding. Man benutzt ihn, um das Spiel durch Zufälle spannend zu machen. Der kleine Kubus aus Holz oder Kunststoff entscheidet dann über Glück oder Pech, über Tränen oder Jubel.

Die Vielfalt der Ergebnisse beim Rollen des Würfels ist überschaubar. Es gibt aber Situationen, in denen dem Zufall deutlich mehr als sechs Alternativen zur Auswahl stehen, etwa beim Wetter oder in der Liebe. Der Mathematiker spricht hier von nicht­linearen Systemen. Linear bedeutet, dass eine kleine Ursache eine kleine Wirkung hat und eine große Wirkung einer großen Ursache bedarf. Im nichtlinearen Fall aber kann ein beliebig kleiner Anlass eine beliebig große Folge haben. Der Schlag eines Schmetterlingsflügels kann Schritt für Schritt zu einem Hurrikan führen und ein einziges falsches Wort kann nach sieben Jahren das Ende der Ehe bedeuten.

Ja, keine Frage, neben dem Wetter ist auch unser Dasein eine nichtlineare, komplexe Angelegenheit. Welche Alternativen stehen hier der Schicksalsgöttin zur Verfügung? Unter wie vielen Lebenswegen kann sie den unseren auswählen? Es sind unendlich viele und sie wird immer wieder eingreifen, auch wenn wir längst auf unserem Pfad unterwegs sind. Am reichhaltigsten aber ist ihre Auswahl, wenn wir noch jung sind.

 

Ein Kosmos an Optionen

Dazu gibt es eine hübsche Legende aus der Kindheit von Krishna, der beliebten Gottheit der Hindus. Er spielte mit anderen Kindern im Garten und nahm dabei Erde in den Mund – das war dort und damals wohl ein beliebter, aber verbotener Zeitvertreib für die Kleinen. Ein Spielgefährte verpetzte ihn bei seiner Pflegemutter Yasoda und die rief ihn ins Haus. Sie befahl ihm den Mund aufzumachen, aber er wollte nicht. Mit Gewalt öffnete sie seine Kiefer und was sie sah, war ganz erstaunlich: Sie sah herrliche Landschaften mit Bergen und Flüssen, die Sonne, den Mond und die Sterne, das gesamte Universum in seiner strahlenden und unvergänglichen Schönheit. Verzückt verweilte sie einen Moment bei diesem Anblick, schließlich sagte sie: „Du kannst wieder zumachen.“ Dann fiel sie ohnmächtig zu Boden.

Krishna war damals vier Jahre alt. In dem Alter prüfte meine Mutter des Öfteren, ob ich meine Zähne geputzt hätte und sah mir dazu in den Mund. Sie berichtete damals nie von Galaxien oder Ozeanen. Auch habe ich nicht beobachtet, dass sie in Ohnmacht gefallen wäre. Dennoch trug ich in diesem Alter, wie alle Vierjährigen, einen Kosmos voller Optionen für den kommenden Lebensweg in mir.

Das Erwachsenwerden geht dann mit Entscheidungen für diese oder jene Option einher. Und jede Auswahl bringt es mit sich, dass wir auf viele andere Optionen verzichten. Als Erwachsene haben wir dann irgendwann eine bestimmte berufliche und familiäre Situation geschaffen, der wir unsere Energie und Kreativität widmen. Auf dem Weg dahin haben wir Tausende anderer Möglichkeiten verworfen. Wir sind weder Astronaut, noch Feuerwehrmann noch Filmstar geworden.

Die Vielfalt an noch verfügbaren Optionen wird immer ein Maß dafür sein, wieviel Jugend wir uns erhalten haben. Am Ende des Tages aber und am Ende der Jahre bleibt dann für jeden nur noch der eine Pfad in die ewigen Jagdgründe – egal was er vorher alles getan und gelassen hat.

Ich möchte Ihnen jetzt den Weg schildern, den ich durch die Landschaft der Möglichkeiten, die sich in meinem Leben boten, genommen habe. Dabei wurden viele Weichenstellungen vom Schicksal vorgenommen, andere waren Resultat meiner bewussten, überlegten und freien Entscheidung – falls es so etwas gibt. Aber egal, ob es die Gene, die Sterne, die Zufälle oder der eigene Wille sind, die unseren Lebensweg bestimmen, eines ist sicher: Die Eltern spielen bei alledem die wichtigste Rolle.

 

Mutter und Vater

So mancher schiebt ein Leben lang die Schuld an seinen Problemen den Eltern zu, das Verdienst für seine Erfolge aber beansprucht er für sich selbst. Wie paradox. Offensichtlich hat er ja überlebt – Vater und Mutter haben ihre Pflicht also getan. Was er jetzt noch über sie sagt, das sagt er, um recht zu haben.

Mit dieser Weisheit im Bewusstsein werde ich Ihnen, lieber Leser, liebe Leserin, über meine Kindheit und Jugend berichten. Lassen Sie uns gemeinsam in die Welt meiner frühen Lebensjahre stürzen. Diese begannen 1963 in Stuttgart.

Seit ich denken konnte, war ich überzeugt, dass ich ein ungewolltes Kind war. Und was noch schlimmer war, ich war nicht nur ungewollt, ich war auch ungeliebt, ich erfuhr weder Zuwendung noch Aufmerksamkeit.

Kindheit und Jugend standen unter dem Motto, das Wilhelm Busch folgendermaßen formuliert hat:

Zwar man zeuget viele Kinder,
doch man denket nichts dabei,
und die Kinder werden Sünder,
wenn’s den Eltern einerlei.

Mein Vater war in Ungarn aufgewachsen und 1956 im Alter von 21 Jahren von dort emigriert. Es war das Jahr in dem der Volksaufstand gegen die kommunistische Regierung von der sowjetischen Armee niedergeschlagen wurde. Auf Zwischenstationen als Arbeiter im Bergbau und als Lkw-Fahrer kam er schließlich nach Stuttgart und verdiente sein Geld als Taxifahrer. 1968 war er in der Lage, seinen ersten eigenen Wagen zu kaufen: ein bescheidener, hart erarbeiteter Meilenstein in seinem kargen beruflichen Leben.

Ich habe meinen Vater als extrem kontaktscheu und paranoid in Erinnerung. Er war gehemmt durch Minderwertigkeitskomplexe in allen Lebensbereichen. Ich würde lügen, wenn ich sagte, dass unter seiner rauen Schale ein liebevolles, weiches Herz schlug. Ich habe keine schönen Gefühle, wenn ich mich an ihn erinnere.

Die Familie meiner Mutter wurde bei Kriegsende aus dem Sudetenland nach Ostdeutschland vertrieben und flüchtete 1949 von dort in den Westen, in die Stuttgarter Gegend, zu der die Oma Beziehung hatte. Damals war meine Mutter sieben Jahre alt.

Später führte das Schicksal dann den Mann aus Ungarn mit dem Mädchen aus Böhmen im Südwesten Deutschlands zusammen. Als meine Mutter einundzwanzig war, selbst noch fast ein Kind, da kam ich auf die Welt. Es war eine einfache Welt, geprägt von Sparsamkeit, Pflichtbewusstsein und Fleiß. Ich hatte Arbeiter­eltern erwischt, die wenig Wert auf die Schulbildung legten und für die auch meine soziale Integration kein Thema war.

Die Mutter arbeitete in einer Fabrik, in die ich sie jeden Morgen begleiten musste und von wo ich abends mit ihr nach Hause ging. So sparte man zwar den Kindergarten, aber als Folge davon wuchs ich in Einsamkeit auf. Ich hatte keine anderen Kinder als Freunde, bis ich sieben war und eingeschult wurde, und Geschwister zum Spielen hatte ich auch keine.

In den ersten Schuljahren fiel ich nicht durch gute Leistungen auf und die Lehrer waren skeptisch hinsichtlich meiner Chancen für die Realschule. Aber ich schaffte die Aufnahmeprüfung trotz deren Bedenken. Damit allerdings waren die Probleme nicht überwunden, sondern sie fingen erst richtig an. Ich war nämlich Legastheniker und hatte in keinem Diktat weniger als dreißig Fehler. Meine Mutter nahm inzwischen etwas mehr an meiner Entwicklung teil, und so übten wir täglich zu Hause. Für jeden einzelnen Rechtschreibfehler gab es Schläge – da kam einiges zusammen, bei dreißig pro Seite.

Sie litt übrigens selbst an Legasthenie und ihre Erziehungsmaßnahmen mögen letztlich ein Zeichen mütterlicher Liebe gewesen sein – „Mein Sohn soll es einmal besser haben als ich …“ Solch abstrakte Überlegungen stellte ich damals allerdings nicht an. Ich wollte nur weg von zu Hause in die Freiheit, von der ich mir ein Leben mit weniger Schlägen auf den Hinterkopf erhoffte.

 

Rebellion und schiefe Bahn

Ich kämpfte mich so schlecht und recht weiter und die fünfte Klasse konnte ich ganz gut abschließen. Damals war ich elf. Im Jahr darauf wurde meine Mutter schwer krank, beinahe wäre sie gestorben. Das belastete mich natürlich und ich blieb in der sechsten Klasse sitzen. Bei dieser Nachricht verlor mein Vater die Beherrschung und er ließ seinen Groll über mich in Form totaler Beschimpfung und Verachtung an mir aus. Nur Omas Intervention verhinderte, dass es zu Schlimmerem kam. Das war die einzige Anteilnahme, die der Vater an meinem schulischen Werdegang je gezeigt hat.

Durch die Wiederholung der Klasse landete ich bei neuen Schulkameraden und bildete einen neuen Freundeskreis. Der hatte nicht unbedingt guten Einfluss auf mich: Ich spezialisierte mich darauf, die Lehrer zu provozieren, und erntete viele Verweise und Einträge. Auch die schulischen Leistungen glitten wieder ab. Es war jetzt das sechste und letzte Schuljahr. Die Abschlussprüfung stand an und drei Monate vor dem Termin wurde ich von der Schule verwiesen! Ob ich es mir damals eingestand oder nicht, ich litt unter der gefühlsmäßigen Kälte der Eltern. Wenn man zu Hause keine Liebe und Zuwendung erfährt, dann versucht man’s anderswo, beispielweise in der Schule. Man versucht seinen Kameraden zu imponieren, um Aufmerksamkeit um jeden Preis zu erzwingen. Und so werden aus den Kindern Sünder, wenn’s den Eltern einerlei. Trotzdem schaffte ich die Mittlere Reife, wenn auch mit Hängen und Würgen. Danach wird später aber nicht gefragt.

Auf jeden Fall öffnete mein Zeugnis den Zugang zu einer Lehrstelle als Automechaniker bei Daimler-Benz, bei deren Vermittlung mein Patenonkel hilfreich war. Das hat mich als Siebzehnjährigen nicht vom Hocker gerissen; ich konnte damals nicht erkennen, dass es eine wesentliche Voraussetzung für meine berufliche Entwicklung sein würde.

Vorerst musste ich mich bei Daimler in einen neuen Freundeskreis integrieren. Es war nun nicht meine Art, die anderen durch das Verbreiten von Harmonie und Eintracht für mich zu gewinnen. Ich versuchte durch gewagte Husarenstreiche zu beeindrucken; das hatte ich ja schon in der Schule praktiziert. Jetzt musste ich allerdings etwas mehr zeigen als nur Zoff mit dem Lehrer. Ich fing mit Ladendiebstählen an, die mich für das eigentliche Objekt meiner Begierde fit machen sollten: schnelle Autos.

So knackte ich schließlich die Dinger und ging auf Spritztour. Es war für mich die einzige Möglichkeit, meine Sehnsucht nach Freiheit auf vier Rädern zu stillen, denn ich hatte damals weder Führerschein noch Auto. Das ging nicht lange gut und man erwischte mich. Das Gericht zeigte wenig Verständnis für meine Neigung, dem tristen Alltag durch wilde Fahrten in gestohlenen Fahrzeugen zu entfliehen. Ich musste für eine Woche ins Jugendgefängnis.

Da saß ich nun in meiner einsamen Zelle, 24 Stunden am Tag, getröstet nur durch den mittäglichen Spaziergang im Gefängnishof. Wo war ich gelandet! Mit 18 Jahren und im zweiten Lehrjahr war ich in der tiefsten Talsohle meiner Existenz angekommen. Würde ich hier Kontakte zu echten Knackis knüpfen, um endgültig auf die schiefe Bahn zu geraten? Oder würde ein Wunder geschehen, das mich auf den Pfad der Tugend brachte? Eine kleine Ursache könnte jetzt eine große und entscheidende Wirkung haben.

Das Wort Gefängnis hatte eine Schockwelle des Entsetzens um mich herum ausgelöst, die auch die Oma, die Mutter meiner Mutter wahrnahm. Auf meinem Gang in die Zelle hatte sie mir etwas mit auf den Weg gegeben: „Wenn du zurück bist, dann rufst du mich an.“ Das hatte sie ziemlich klar und unaufgeregt gesagt. Am Tag meiner Entlassung meldete ich mich dann morgens bei ihr und sie lud mich zum Frühstück ein. Die kluge Frau hatte erkannt, dass ich an einem Scheideweg stand, und sie sprach mir Mut zu. Bei alledem kam kein Wort des Vorwurfs wegen meiner bisherigen Verfehlungen. Das hat mir gutgetan. Großmutter und Enkel haben ja oft ein inniges Verhältnis – schließlich haben beide denselben Feind.

Ein Lob der Großfamilie! Wenn es offensichtlich wird, dass die Eltern überfordert sind, dann springen andere Sippenmitglieder selbstlos ein und helfen dem Sprössling. Sie fühlen spontan Verantwortung für den Nachwuchs. Auch der Patenonkel, der mich zu Daimler brachte, hat das getan, und seine Frau, welche die Fäden im Hintergrund zog. An dieser Stelle geht mein herzlicher Dank an die Oma, die Tante und den Onkel.

Es gab dann noch ein paar Monate Ausbildung bei Daimler mit internen Schulungen. Da gelang es mir, den Meister zu verärgern, indem ich ihm deutlich zeigte, dass ich schon alles wusste, sogar besser als er selbst. Den anderen gefiel das, dem Meister weniger. Trotzdem hatte ich schließlich früher als geplant ausgelernt, dank bester Leistungen. Meine Kumpels wurden dann alle in ein festes Arbeitsverhältnis übernommen, ich nicht. Warum wohl? Aber auch anderswo fand ich keine Anstellung. Niemand wollte mich haben, weil ich noch keinen Wehrdienst geleistet hatte.

So rückte ich dann ein, freiwillig, aber widerwillig und ohne jegliche Begeisterung. Fünfzehn Monate lang war ich bei der Bundeswehr in Landsberg am Lech in der Einheit für Kfz-Instandsetzung. Es war eine sinnlose Zeit, aber ich konnte hier zum ersten Mal, mit 21 Jahren, echte Kameradschaft erleben. Das war sehr wohltuend, es hielt mich aber nicht davor zurück, auch hier über die Stränge zu hauen. Das wiederum bescherte mir eine Woche Zwangsaufenthalt im „Café Viereck“. Trotzdem, die Zeit in der Klicke beim Barras möchte ich auf keinen Fall missen.

Die Kraft der Vision

Hin und wieder machte ich mir Gedanken, was ich nach meinem Wehrdienst wohl anfangen würde. Das Nächstliegende war natürlich, eine Anstellung als Kfz-Schlosser zu suchen; dafür hatte ich den Wehrdienst ja absolviert.

Aber noch jemand anderes hatte sich Gedanken über meine Zukunft gemacht, und zwar gründlicher als ich selbst: meine liebe Großmutter. Sie wollte etwas aus mir machen. So forschte sie nach, was einem jungen Mann mit Realschulabschluss und Facharbeiterbrief in der Hand bestenfalls offenstand. Und sie fand es heraus: Ich konnte versuchen, in zwei Semestern die Fachhochschulreife zu erlangen, und dann Maschinenbau studieren. Abschluss wäre dann Dipl. Ing. Fachrichtung Fahrzeugtechnik.

Omas Idee stieß bei Familie und Freunden auf Kopfschütteln. Ich hatte in der akademischen Welt nichts verloren. Ich war zum Arbeiter geboren, nicht zum Studenten. Auch ich selbst fand den Plan total unrealistisch. Keine Raupe, die auf einem Busch herumkriecht – sei sie noch so pfiffig und furchtlos – kann sich vorstellen, in absehbarer Zeit losgelöst von der Schwerkraft über blühende Wiesen zu flattern.

Aber die Großmutter hatte mir jetzt diesen Floh ins Ohr gesetzt. Die Raupe begann ganz vage zu ahnen, dass es auf der Welt noch etwas anderes gab, als durch Sträucher zu robben und Blätter zu fressen. Mein Widerstand gegen ihren Vorschlag schwand und ich empfand sogar eine gewisse Abenteuerlust, mich auf die Sache einzulassen. Die skeptische Haltung meiner Umgebung stachelte mich jetzt eher an, als dass sie mich bremste. Ich wollte es zumindest versuchen. Ich trug jetzt die Vision einer völlig neuen Zukunft in mir.

Ich ging zu Oma und eröffnete ihr meinen Sinneswandel. Ohne viel Worte zog sie die Schublade vom Esstisch auf und legte mir einen Stapel Formulare vor die Nase. „Unterschreib! Den Rest hab ich schon gemacht.“ Sie hatte während meiner Monate beim Wehrdienst ihr Projekt „Andy“ bis ins letzte Detail geplant und vorbereitet. Ich unterschrieb und war von diesem Moment an in einer anderen Dimension. Wie die Raupe zum Schmetterling wird, so hatte ich begonnen, die Schwerkraft meiner bescheidenen Herkunft zu überwinden! Danke Oma – das hätte ich ohne Dich nicht geschafft.

Jetzt war bei mir der Groschen gefallen und ich fing an, hart zu arbeiten. Das war notwendig, denn es ging darum, die Klassen 11 und 12 des Gymnasiums in einem Jahr nachzuholen. Aus der Realschule hatte ich weder Begeisterung noch Methodik für das Lernen mitgebracht, und so schloss ich das erste Semester mit Mathe 6 und Physik 5 ab. Gerade diese theoretischen Fächer machten mir zu schaffen, aber gottlob waren die Zensuren des ersten Semesters nur ein Warnschuss. Für die Endnoten des Reifezeugnisses waren sie irrelevant.

Ich war jetzt besessen von meinem Ziel, ein Ingenieur zu werden. In den Semesterferien brachte ich mir selbst die beiden Horror­fächer aus Lehrbüchern bei. Ein mörderisches Unterfangen, denn bei Mathe und Physik geht es ums Verstehen und nicht ums Auswendiglernen. Ich musste jetzt alles geben. Aber auch ein Schmetterling muss alles geben, wenn er aus seinem Kokon ausbrechen will, um die Freiheit zu gewinnen, und er schafft es. Ich habe es auch geschafft.

Nach zwei Semestern hatte ich das Reifezeugnis in der Hand, Notendurchschnitt 1,6 – ich war der zweitbeste unter 120 Kandidaten. Ich bekam sofort einen Studienplatz, studierte Maschinenbau/Fahrzeugtechnik und schloss nach sechs Semestern im Alter von 26 Jahren mein Studium mit 2,1 ab. Zum Geldverdienen war ich in der Zeit nebenher noch Taxi gefahren.

Was für ein Trip! In vier Jahren vom Legastheniker und orientierungslosen Kleinkriminellen zum hoffnungsvollen Ingenieur. Das war möglich geworden durch den völligen Wandel meiner Überzeugungen, durch das Auswechseln des Bildes, das ich von mir selbst hatte. Es sind also weniger die äußeren Umstände, es sind unsere Gedanken, welche neue Möglichkeiten eröffnen oder auch versperren!

Vielleicht zeichnet sich ja auch das Land der unbegrenzten Möglichkeiten durch die unbegrenzten Gedanken und Visionen seiner Bewohner aus – Steven Jobs, Elon Musk oder Bill Gates – und weniger durch seine wirtschaftlichen Gegebenheiten. Wie auch immer, auch mir in Deutschland stand jetzt der Weg nach oben offen, der Weg vom Tellerwäscher zum Millionär.

 


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