published 04.03.2023

Bild: Deezer

Während der Monate Februar, März und April bringt THINK-AGAIN.ORG Auszüge aus dem Roman Stärker als das Schicksal über das Leben eines außergewöhnlichen Mannes.

Sie erinnern sich? Nach dem Jahr in der Klosterschule blieb unserem Helden dann wenig Zeit zum Träumen. Er wurde kopfüber in die Realität gestürzt. 


Wie wird man erwachsen?

Erwachsenwerden ist der Prozess, in dem aus Möglichkeiten Wirklichkeiten werden. Wir verlassen ein Universum voller Optionen, die uns in der Jugend zur Verfügung stehen, und tauschen diese gegen konkrete, gelebte Realität. Als Kind hat man tausend Visionen, man könnte Astronaut oder Lokomotivführer, Filmstar oder Pfarrer werden. Wenn dann die Würfel zugunsten eines bestimmten Berufs gefallen sind, dann haben wir uns gleichzeitig 999 andere aus dem Kopf geschlagen.

Jede Option, von der wir uns trennen, tut weh. Wir fürchten, dass die eine oder andere kostbare Begabung, die in uns schlummert, für jetzt und immer verloren ist. Aber egal, wir müssen sie am Wegesrand liegen lassen, müssen sie opfern, um voranzukommen. 

Nach vorn geht der Blick,
zurück darf kein Seemann schau´n.
Kap Horn liegt auf Lee,
jetzt heißt es auf Gott vertrau´n.

(Hans Albers)

Und nicht nur in Sachen Beruf müssen wir die Vielfalt der Optionen gegen eine einzige Wirklichkeit tauschen. Das gleiche Dilemma konfrontieren wir, wenn es um die Frau unseres Lebens geht oder den Flecken auf diesem Planeten, wo wir unser Nest bauen wollen. Mit jeder Entscheidung verlieren wir Freiheitsgrade und gewinnen Realität.

Die Anzahl der noch verfügbaren Optionen wird immer ein Maß dafür sein, wieviel Jugend wir uns bewahrt haben. In welchem Alter also sollten wir die wichtigsten Entscheidungen fällen? Möglichst spät im Leben, um jung zu bleiben?

 

Peter Pan – forever 

Da gibt es diese Geschichte von dem freigeistigen und schelmischen Jungen, der fliegen kann und nie erwachsen wird, der sich nie für etwas entscheidet. Er verbringt seine endlose Kindheit mit Abenteuern auf der legendären Insel Neverland, als Anführer der Lost Boys, in der Gesellschaft von Feen, Piraten, Meerjungfrauen und Indianern. Tinkerbell ist seine Geliebte; sie ist in jeder Hinsicht perfekt, wenn man einmal davon absieht, dass sie ebenso wenig existiert wie das ganze Neverland.

Dieser Junge namens Peter Pan ist keine Fiktion. Es gibt auf Erden durchaus vierzigjährige Kinder, die sich bis jetzt alle Optionen im Leben offengehalten haben, die sich in ihrer Phantasie ausmalen, was sie alles tun und sein könnten. Sie sind „forever young“.

Von all den Möglichkeiten, die ihnen zur Verfügung standen, haben sie bisher keine einzige realisiert. Aber das ist keine gute Bilanz für einen Mann mittleren Alters! Er wird es schwer haben, jetzt auch nur einen einzigen seiner Träume zu realisieren. Wird er seine Tinkerbell finden und in Hollywood Karriere machen? Wird er seine Lizenz zum Jet-Piloten bei der US-Airforce machen? Mit vierzig? Viel Glück!

Wahrscheinlicher ist, dass dieser alte Peter Pan in Depression versinkt und die Gesellschaft für sein Leid verantwortlich macht.

Sollte sich der junge Mann also so früh wie möglich, vielleicht mit 19 oder 20 von seinen jugendlichen Phantasien verabschieden und Nägel mit Köpfen machen? Hat er da schon genügend Wissen und Menschenkenntnis, um gute, langfristige Entscheidungen zu fällen? Könnte er, unerfahren wie er ist, nicht auch auf die schiefe Bahn geraten?

Diese Gefahr besteht, aber wir wollen hoffen, dass das Schicksal hier mit lenkender Hand eingreift, vielleicht in Gestalt eines wohlwollenden Mentors. Wenn der junge Mann dann schon früh die Weichen stellt, wenn er mit vierzig kein Peter Pan mehr ist, sondern sein Feld erfolgreich bebaut hat, dann hat er nicht nur eine sichere Basis für sich und seine Familie geschaffen, er hat jetzt auch den Freiraum, um doch noch den einen oder anderen Traum von damals zu verwirklichen.

Und so ergibt sich am Ende des Tages ein erfülltes Leben, in dem Neigungen und Begabungen, die vermeintlich verschollen waren, endlich ihren Platz finden.

Falls Sie es noch nicht bemerkt haben, liebe Leserin, lieber Leser: Die Rede ist vom Helden unseres Romans. Der hatte 1956 die Schule beendet, und es gab keine andere Wahl, als den Weg des „Dualen Systems“ einzuschlagen. Abitur und ein Studium an der Universität wären vom Vater nicht finanzierbar gewesen.

 

Nur zwei Optionen

Das Duale System ist eine spezifisch deutsche Form der Ausbildung, in der praktisches Training und theoretische Schulung drei Jahre lang parallel laufen. Nach erfolgreichem Abschluss gibt es dann ein Diplom. Diese Form der Vorbereitung auf den Beruf hat lange Tradition in Deutschland und ist eine der Grundlagen für die überragende Qualität deutscher Produkte und Leistungen auf dem Weltmarkt.

Gerd stand diese Form der Ausbildung nun offen, allerdings musste er sich bereits jetzt für ein bestimmtes Fach, ein bestimmtes Handwerk entscheiden, mit gerade mal 15 Jahren. Was die Wahl erleichterte war die Tatsache, dass es nur zwei Optionen gab: Konditor oder Installateur. Zu keinem der beiden Berufswege fühlte er sich hingezogen, den Beruf des Klempners allerdings fand er spontan abstoßend.

Und so widmete er sich für drei Jahre in Theorie und Praxis der Kunst der Herstellung feiner Backwaren. Tagsüber wurde er als Lehrling von einem rabiaten Lehrmeister geschunden, der ihm die unangenehmsten Arbeiten gab und beim kleinsten Fehler mit Ohrfeigen reagierte; abends ging‘s dann in die Berufsschule.

In besagter Konditorei arbeitete übrigens auch der Sohn des unfreundlichen Meisters, und der war alles andere als helle. Dem Vater wurde das nun ständig vor Augen geführt, weil unser Gerd bekanntlich über eine gute und schnelle Auffassungsgabe verfügt, weil er „mit den Augen lernt, und nicht mit den Ohren“. Der Spross des Meisters aber war mit zwei linken Händen ausgestattet. Damit das nicht zu sehr auffiel, wurde Gerd eben mit den niedrigsten Aufgaben betraut, damit seine Begabungen nicht offensichtlich würden. Dazu gehörte dann auch das besonders unbeliebte Ausliefern von Ware per Fahrrad und in Konditorskluft. Aber auch das hat unser Held überlebt.

Lassen Sie mich an dieser Stelle eine soziologisch-philosophische Betrachtung zum Thema Ausbildung einfügen.

Eine der Grundlagen jeglicher Zivilisation ist die Arbeitsteilung. Solange jeder sein Korn selbst anbaut, seine Fische selber fängt und seine Schuhe mit eigenen Händen näht, solange sind die Überlebenschancen gering, und das Dasein ist ein einziges Leiden. Es ist also für alle Mitglieder einer Gesellschaft von großem Nutzen, wenn sich Fachleute herausbilden, die ihre Produkte oder Leistungen für die Gemeinschaft anbieten und ihrerseits von Leistungen und Produkten ihrer Mitmenschen leben. Es ist für jede Gesellschaft überlebenswichtig, dass sie Spezialisten heranzieht, aber es ist auch für den Einzelnen wichtig, sich eine Expertise anzueignen, für die andere bereit sind, etwas zu bezahlen.

 

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Die Erlangung dieser Expertise kann sehr unterschiedlichen Aufwand erfordern, der aber nicht unbedingt in Korrelation zum Nutzen der erlangten Expertise steht. Die Ausbildung zum Installateur ist sicherlich einfacher als die zum plastischen Chirurgen, wobei der Nutzen des Ersteren für die Gesellschaft vermutlich größer ist als der des Letzteren. Bedenken Sie, wie entscheidend die zuverlässige Beseitigung der Abwässer für Gesundheit und Lebensqualität ist: Sie beschert uns ein Dasein ohne Typhus und Cholera.

Universitäten bestätigen ihren Absolventen schließlich die erworbene Qualifikation durch einen Titel, etwa Doktor oder Diplom.

Solch ein Titel bestätigt seinem Träger außerdem, dass er erst viele Jahre später mit einer unmittelbar für die Gesellschaft nützlichen Arbeit begonnen hat, Jahre, in denen er sich auf Kosten der Gesellschaft Wissen aneignete. Dessen braucht er sich nicht zu schämen, es gibt aber ebenso wenig Grund, deswegen überheblich zu sein.

Gerd begann sehr früh mit unmittelbar nützlicher Arbeit. Nach vollendeter Ausbildung hatte er viel Glück und bekam seine erste und letzte Anstellung als Konditor in Deutschland. Es war in einer angesehenen, mittleren Feinbäckerei der Großstadt Hannover. Aber wie Sie bald sehen werden, ist mit den Worten „viel Glück“ sein erstes berufliches Engagement unterbewertet. Denn in diesem knappen Jahr seiner Tätigkeit sollte sich die vielleicht wichtigste Weichenstellung seines Lebens ereignen. Er würde in diesem, seinem neunzehnten Lebensjahr, früher als die meisten anderen, ein für alle Mal die Welt des Peter Pan verlassen und schlagartig erwachsen werden.

Und das kam so: Gerd war damals eine unverbesserliche Leseratte, vor der kein Stück Papier sicher war, das zwischen zwei Buchdeckeln steckte und sich unvorsichtigerweise in seiner Reichweite aufhielt. Aber nicht nur das, ein sehr schnell arbeitendes Gehirn ermöglichte es ihm, den Inhalt enormer Seitenzahlen in kürzester Zeit in sich aufzunehmen, zu analysieren und vor seinem inneren Auge sichtbar werden zu lassen.

Um welche Inhalte ging es da wohl? Waren es romantische Geschichten mit schönen, verführerischen Frauen? Waren es Kriminalromane à la Sherlock Holmes? Das ist nicht auszuschließen. Was ihn auf jeden Fall am meisten beeindruckte, waren die Berichte aus fernen Ländern, fremden Kontinenten mit ihren exotischen Bewohnern, mit farbenfrohen Kulturen, deren Alltag von Lachen und Lebensfreude bestimmt war, aber auch von Kampf und Abenteuer.

Dank seiner hohen Lesegeschwindigkeit genügte es ihm, Bücher nur für eine sehr kurze Frist auszuleihen, wobei dieses „Ausleihen“ manchmal auf informelle, verborgene Weise geschah, ebenso wie die Rückgabe des gelesenen Werkes, sodass Bibliothekare oder Eigentümer das Fehlen des betroffenen Buches gar nicht bemerkten; jedenfalls taten sie so.

Gerd vertiefte sich in die Geschichten aus aller Herren Länder, wie sie unterschiedlicher nicht sein konnten. Manches war der Phantasie des Autors entsprungen, der seine wilden Ideen dann als eigene Erlebnisse verkaufte, anderes wiederum beruhte ganz offensichtlich auf authentischer Erfahrung vor Ort. Wie auch immer, all diese Geschichten hatten etwas gemeinsam: Sie beschrieben Welten, in denen das Leben unendlich viel schöner sein musste, als in der Welt, die Gerd bisher kennengelernt hatte: das graue, karge, freudlose Nachkriegsdeutschland.

So wuchs in ihm die überwältigende Sehnsucht, dorthin zu fliehen, wo das Dasein lebenswert wäre; je weiter weg, desto besser. Irgendwo hin, denn schöner als hier wäre es allemal. Und vielleicht malte er sich in seiner Vorstellung aus, wie solch eine Reise und die Ankunft im gelobten Land wohl aussähen. Und vielleicht hatte er diese Tagträume manches Mal auch in der Konditorei während der Arbeit.

Herr Schulz, einer der Direktoren der Firma und Gerds direkter Vorgesetzter, bemerkte dieses auffällige Verhalten. Würde er seinen verträumten Mitarbeiter zur Rechenschaft ziehen und Konsequenzen androhen? Würde er ihn vor versammelter Mannschaft fertigmachen? Nein, er tat etwas, was er vorher noch nie in solch einem Fall getan hatte. Er lud Gerd zu sich in sein Haus ein.

Nach dem recht schweigsamen Abendessen wollte er von Gerd wissen, was mit ihm los sei. Warum er so geistesabwesend sei, obwohl er doch gute Arbeit leisten könne. Gerd schilderte ihm die tragischen und trostlosen Jahre seiner Kindheit und Jugend. Er verriet ihm auch die Vorstellungen seiner Zukunft, die vielleicht vage waren, aber in denen das Handwerk des Konditors keine Rolle spielte.

Der Chef erklärte ihm, dass er sich keinen Gefallen tue, wenn er sich ständig bemitleidet. Die Vergangenheit war wie sie war, und die Gegenwart ist wie sie ist. Nur wer die Wirklichkeit konfrontiert und akzeptiert, kann Erfolg haben. Und gegenwärtig ist Gerd Konditor in seinem Unternehmen. Punkt.

Es waren klare und harte Worte, die umso überzeugender waren, als die gute Absicht, in der sie gesprochen wurden, ganz deutlich im Vordergrund stand. Vielleicht hätte jeder andere Lehrling diese Worte als typisches Bla Bla Bla eines typischen Chefs abgetan und auf dem Weg nach Hause noch ein paar Bier getrunken. Gerd aber nahm die Predigt sehr ernst. In ihm entstand die Erkenntnis: Ich bin ein Konditor, und das ist mein Weg. Das war von nun an sein Mantra.

Herr Schulz hatte Gerd in seinen frühen Jahren sehr energisch aus der phantastischen Welt des Peter Pan in die noch aufregendere Wirklichkeit der Erwachsenen gestoßen, und Gerd hat willig den Schritt durch die Pforte vom Träumer zum Macher getan.

Und wieder, wie später noch des Öfteren, musste Gerd sich fragen: „Warum passiert so etwas ausgerechnet mir? Wie habe ich diese bevorzugte Behandlung durch meinen Chef verdient? Gibt es da einen guten Stern oder einen Schutzengel, der über mich wacht?“

Ich habe da eine Idee, die Sie vielleicht auf den ersten Blick als übertrieben pathetisch ausschließen, aber nach weiterem Lesen und einigem Nachdenken doch als plausibel akzeptieren werden. Vielleicht hatte der sensible Herr Schulz hier eine Intuition; die Intuition, dass er einen Beitrag zu einem bedeutenden Werk leisten könnte; dass er Teil werden könnte von einer Schöpfung, die da hinter fernem Horizont schlummerte, um eines Tages im glänzenden Morgenlicht zu erscheinen; ein Werk, das auf fernem Kontinent der Zunft des Konditors große Ehre bereiten und den Namen eines österreichischen Komponisten tragen würde.


UND HIER EIN FREUNDLICHER GESCHENK-TIPP

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