Bild: Julius Drost / unsplash

Die Zigarette

Es war inzwischen Freitag, mein dritter Tag im Werk. Der sollte nun den erwähnten Themen Ordnung, Disziplin und Sauberkeit gewidmet sein. Bei Piroska wurde in drei Schichten gearbeitet. Meine erste Belehrung um 14:00 Uhr galt den versammelten Arbeitern der Früh- und Spätschichten, die zweite richtete sich um 20:00 Uhr an die Nachtschicht.

Meine Ansprache war in Deutsch und ich nahm einen Dolmetscher zu Hilfe. Es wäre wohl auch auf Ungarisch gegangen, aber ich hätte dann grammatikalische Fehler gemacht wie ein Achtjähriger. Die Folge davon wäre gewesen, dass mich meine Zuhörer in ihrem Unterbewusstsein als Kind erlebt und nicht ernst genommen hätten. Das war das Letzte, was ich jetzt brauchen konnte!

Ich machte also mehr als deutlich, dass die aktuelle Unordnung nicht länger akzeptiert würde und dass jegliche Disziplinlosigkeit arbeitsrechtliche Konsequenzen hätte.

Ich verlas eine Liste von Missetaten, welche sofortige Kündigung und Hausverbot zur Folge hätten: das Entfernen vom Arbeitsplatz, das Rauchen außerhalb des Pausenraumes, das Aufsuchen der Umkleideräume ohne Genehmigung des Schichtleiters, das Tragen von iPods und noch einiges andere. Ich hatte den Eindruck, dass die Menschen bei Piroska noch nie so etwas gehört hatten. Man folgte meinen Ausführungen total emotionslos, so wie ich das aus jenem surrealistischen Rundgang durch die Firma bereits kannte.

Es gab weder Fragen noch Proteste. Eine Atmosphäre von Ungläubigkeit und Entsetzen hatte sich ausgebreitet. Das bestärkte mich darin, dass meinen deutlichen Worten noch deutlichere Taten folgen mussten. Der Belegschaft war eine starke und bittere Medizin in hoher Dosis verabreicht worden und es war wichtig, dass sie die auch schlucken würde.

Gegen 23:00 Uhr in dieser Nacht mache ich einen Rundgang, zunächst ums Gebäude. Ich will sehen, welche Wirkung meine Rede auf die Nachtschicht gehabt hätte. Da glimmt in der Ferne ein orangerotes Licht auf, mal stärker, mal schwächer. Was könnte das wohl sein? Ist es ein fernes Leuchtfeuer, das Schiffe in Küstennähe vor Untiefen und Felsen warnt? Vielleicht ein verirrtes Glühwürmchen? All das ist wenig plausibel. Ich gehe der Sache auf den Grund. Ich schleiche mich in der totalen Finsternis an die magische Glut und erkenne das Unglaubliche: Das Glimmen gehört zu einer Zigarette und die Zigarette gehört zu einem Mitarbeiter der Instandhaltung.

Ich frage ihn, ob er weiß, dass Rauchen auf dem Firmengelände ein Kündigungsgrund ist. Ich tat das auf Ungarisch, was ihn sichtlich erschreckte. „Mach ich bestimmt nicht wieder; so eine Zigarette ist doch nichts Schlimmes.“ Ich erkläre ihm, es käme darauf an, wann und wo man seine Zigarette raucht und dass er entlassen sei. Ich nehme ihm die Schlüssel zum Maschinenraum ab, begleite ihn in die Umkleide, damit er seine Klamotten holt, dann geht’s zur Pforte mit der Botschaft, dass der Mann ab sofort Hausverbot habe. Auf der Straße zündet er sich eine Zigarette an und verschwindet schließlich im nächtlichen Dunkel.

Ich fühle mich wie Garry Cooper in High Noon. Meine Haltung ist aufrecht, mein Schritt ist ruhig, meinem Auge entgeht nichts. Und so setze ich die Patrouille fort.

Schon erwische ich einen anderen, der in einer dunklen Ecke der Halle qualmt. Auch für ihn ist es der letzte Tag in der Firma. Ein Mitarbeiter der Reinigungsfirma wird beim Klauen ertappt: Hausverbot, sofort. Zwei Frauen prügeln sich am Arbeitsplatz, Männer spielen Karten in der Umkleide, drei weigern sich zu arbeiten: Ich bin unerbittlich. Von Freitag bis Sonntagabend gibt es insgesamt 15 Entlassungen.

An dieser Stelle halte ich eine kurze moralische Betrachtung für angebracht. Ich will verhindern, dass Sie mich für einen herz­losen Sadisten oder Zyniker halten und dass ich jetzt Gefahr laufe, Sie als Leser zu verlieren. Sie sollen mich ja noch durch die verbleibenden Seiten des Buches begleiten. Lassen Sie mich zu meiner Verteidigung den Philosophen Max Weber zu Wort kommen.

 

Verantwortung

Ein Vater geht mit seinem zehnjährigen Töchterlein am Strand spazieren. Starker Wellengang hat über Nacht Seesterne angespült, die jetzt auf dem Sand im Trockenen liegen und die voraussichtlich bald eingehen. Die Tochter nimmt einen davon und wirft ihn zurück ins Meer. Der Papa erklärte ihr: „Schau, mein Schatz, da liegen Tausende, vielleicht Zehntausende von Seesternen herum. Ob du jetzt einen davon ins Wasser wirfst oder nicht – das macht doch keinen Unterschied.“ Die Kleine wirft wieder einen im hohen Bogen ins Meer und triumphiert: „Für den hat’s einen Unterschied gemacht!“

Wer hat recht? Das Mädchen oder der Vater? Besagter Max Weber hat sich vor hundert Jahren dieses Themas angenommen und eine wichtige Erkenntnis formuliert: Unsere Handlungen können von unserer Gesinnung bestimmt sein oder davon, was wir letztlich erreichen wollen. Die beiden Haltungen nannte er Gesinnungs- bzw. Verantwortungsethik.

Das ist keine akademische Spielerei, sondern ein Thema, welches das Verhalten jedes Menschen prägt. Wie so vieles Wichtige wird uns auch diese Unterscheidung in der Schule nicht erklärt – jedenfalls nicht so, dass wir sie verstehen. So wandeln wir durchs Leben, ohne zu wissen, auf welcher Seite wir eigentlich stehen.

Manchmal geht es um mehr als um Seesterne am Strand. Politiker agieren fast immer in der Spannung zwischen Gesinnung und Verantwortung. Es war unser Kanzler Helmut Schmidt der Max Webers Erkenntnisse damals in die öffentliche Debatte brachte. Anlass war die Entführung Hans Martin Schleyers durch die Rote-Armee-Fraktion im Oktober 1977. Die Terroristen forderten von der Regierung die Freilassung elf ihrer Komplizen aus dem Gefängnis, anderenfalls würde die Geisel sterben.

Der gesinnungsethische Ansatz wäre gewesen: „Alles muss getan werden, um das Leben der Geisel zu retten; daher Entlassung der Inhaftierten und Rettung Schleyers.“ Die verantwortungsethische Sichtweise ist: „Wer gegenüber Terroristen nachgibt, der wird wieder erpresst, und es wird neue Opfer geben. Also: Die Komplizen bleiben in Haft; Schleyers Tod muss in Kauf genommen werden.“ Schmidt entschied verantwortlich. Es bedeutete das Ende für die Geisel. Aber es war auch das Ende der RAF.

Für Gesinnungsethiker hat schon das Handeln nach moralischen Prinzipien einen Wert, unabhängig vom Resultat. Für den Verantwortungsethiker ist das gewünschte Ergebnis ausschlaggebend. Gegenbeispiel zu Helmut Schmidt war Angela Merkel mit ihrer Politik der unkontrollierten Einwanderung 2015. Die Bevölkerung konnte sich leicht mit der Gesinnung identifizieren: „Menschen in Not müssen wir helfen, besonders wo es uns selbst so gut geht.“ Mit dem Slogan „Refugees Welcome“ fühlten sich die Deutschen sehr wohl. Verantwortlich fühlte sich allerdings niemand. Jetzt haben wir das Flüchtlingsproblem.

Was hat das mit meinem Job zu tun? Hier geht es nicht um Leben und Tod, aber dennoch um existenzielle Fragen. Ich bin verantwortlich, eine in die Krise geratene Firma zu retten. Mit dieser Verantwortung identifiziere ich mich; ich habe nicht die Absicht, nebenher von der Belegschaft einen Orden für Beliebtheit zu bekommen.

Vielleicht fanden Sie ja meine Entscheidung gegen den Raucher im Dunkeln, nennen wir ihn Victor, und die übrigen Missetäter von übertriebener Härte. Warum habe ich denen keine zweite Chance gegeben? Hat nicht jeder die verdient? So fragt der Gesinnungsethiker. Aber was wäre die Folge gewesen? Meine Worte wären nutzlos gewesen, ich hätte als Papiertiger dagestanden. Schluderei und Leichtsinn hätten weiter regiert. Vielleicht hätten wir dann Victor und Attila an der Werkbank bei folgendem Gespräch belauschen können:

Attila Victor, Mann, wo biste gewesen?
Victor War ich draußen und hab ich geraucht. War stockfinster. Der Deutsche stand plötzlich da, kam aus dem nichts und hat mich angepisst. Auf Ungarisch.
Attila Und?
Victor Bin ich gewesen besonders freindlich zu dem. Hat er gesagt, soll ich nicht wieder rauchen, sonst werd ich gefeuert.
Attila Der Deutsche wird eher gefeuert als du und ich. Wär er nicht der erste.
Victor Kannste mal hoffen.
Attila Victor, biste mein Freind, haste mal ne Zigarette für mich?

 

 

 


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