published 11.03.2023
Bild: Alex Totaro / unsplash
Während der Monate Februar, März und April bringt THINK-AGAIN.ORG Auszüge aus dem Roman „Stärker als das Schicksal“ über das Leben eines außergewöhnlichen Mannes.
Mit gerade mal 20 Jahren macht sich unser Held auf den Weg – einmal um die halbe Welt. Würde alles so sein, wie er es sich ausgemalt hat? Raten Sie mal..
Kennen Sie den Ausdruck „Zu meiner Zeit“?
Wer das sagt, bezieht sich dabei unbewusst auf die Jahre, in denen sein Leben wie im Zeitraffer ablief, als Ereignisse sich überstürzten und wichtige Entscheidungen fielen; als Leidenschaft, Erfüllung und Tragödien das Leben bestimmten. Diese Phasen stehen im Kontrast zu späteren Jahren, wenn ein Tag dem nächsten die Klinke in die Hand gibt und die Ereignisse im Fernsehen wichtiger werden, als die im eigenen Leben.
Ich habe von Gerd nie den Ausdruck „Zu meiner Zeit …“ gehört. Es ist immer „seine“ Zeit; etwa wenn er heute mit Freunden im Oldtimer einen Salzsee in Bolivien überquert und morgen in seiner Cessna den Luftraum Patagoniens unsicher macht. Und dennoch möchte ich zwei Jahre aus seinem Leben hervorheben, in denen die Ereignisse hinsichtlich Tempo, Bedeutung und Spannung alle anderen übertrafen. Es sind die Jahre 1960 und 1961.
Es waren auch für den Rest der Welt ereignisreiche Jahre. JFK wurde zum amerikanischen Präsidenten gewählt, die Antibabypille machte das Leben sorgloser, und der Laser wurde erfunden. Durch die „Berliner“ Mauer wurde ganz Deutschland geteilt, der Vietnamkrieg begann, und Yuri Gagarin umrundete in seiner Vostok-Kapsel die Erde. Das war der erste Schritt der Menschheit in eine neue, unbekannte Dimension – in den Weltraum.
Zu dieser Zeit tat auch Gerd den wichtigen ersten Schritt in eine neue Dimension, den Schritt von der Phantasie zur Realität. Seine Sehnsucht nach der Ferne trieb ihn jetzt zu konkretem Handeln und dazu, an kompetenter Stelle Rat zu suchen. Er wandte sich an die katholische Pfarrei in Hannover, zu der er in seiner Zeit als Ministrant schon Vertrauen gefasst hatte. Dort stieß er auf einen liebenswürdigen Kaplan, vor dem er seine Sorgen, Träume und Pläne ausbreitete.
Die beiden verstanden sich gut, und es ergab sich, trotz Altersunterschied, eine echte Freundschaft. Der Mann versuchte Gerd zu erklären, dass seine Unzufriedenheit nicht dadurch geheilt würde, dass er sich in einem fernen Land niederließ. Die Sorgen, Schmerzen und Sehnsüchte würden ihn begleiten, egal wo er lebte.
Durch diesen Einwand aber konnte er Gerd keinen Millimeter von seinem Vorhaben abbringen.
Kanada, Südafrika oder Chile
Und nun zeigte sich die wahre Nächstenliebe des Kaplans. Obwohl er die Pläne selbst nicht gutheißen konnte, tat er alles, um Gerd bei ihrer Verwirklichung zu helfen. Das ist gelebtes Christentum. Er sorgte dafür, dass in katholischen Broschüren, so wie sie Pfarreien in allen Ländern der Erde herausgeben, Inserate erschienen, in denen ein junger Konditor seine Arbeitskraft anbot.
Das Wunder geschah, und schon nach ein paar Wochen lagen Angebote vor. Sie kamen aus Ländern, die alle weit genug entfernt von Hannover waren: Kanada, Südafrika und Chile. Welches Land würde er auswählen? Er überließ es der Schicksalsgöttin. Für alle drei Länder beantragte er das notwendige Visum, und Chile reagierte am schnellsten. Gerd versicherte sich noch, dass die Situation im Lande stabil und ruhig sei, und die Würfel waren gefallen.
Es fällt heute vielleicht schwer sich vorzustellen, dass all diese Organisation damals ohne E-Mail, ohne WhatsApp, ohne Fax funktionierte. Ja, damals kommunizierte man weniger, aber die Meldungen und Auskünfte hatten noch mehr Gewicht und Verbindlichkeit als heute.
Es gab allerdings auch Ausnahmen.
Gerds Arbeitgeber in spe, ein Konditoreibesitzer in Santiago, hatte zugesagt, ihm den Anstellungsvertrag zusammen mit der Passage Deutschland-Chile zu schicken. Ersterer kam, letztere nicht. Es war vielleicht ein kleiner Vorgeschmack darauf, dass in Chile Versprechen leichter gegeben als eingehalten werden, insbesondere wenn dabei Geld im Spiel ist.
Wieder wandte sich Gerd an den freundlichen Kaplan, um mit dessen Hilfe eine Lösung zu finden. Und wie es der Zufall wollte, wusste der von einem einmaligen Programm der deutschen Regierung, welches Reisekosten für junge Auswanderer übernahm, die in einem anderen Land nach Arbeit suchen wollten.
Tausend Tickets standen zur Verfügung – für hundertmal so viele Bewerber. Und wieder gelang es Gerd, nach vielen Interviews und intensivem Papierkrieg, einer der Auserwählten zu sein. Die Entscheidung ließ allerdings ein Jahr auf sich warten. Umso größer der Freudentaumel, als der eingeschriebene Brief mit Gutscheinen für Transport und Hotels endlich eintraf.
Es war das Frühjahr 1961. Für Generationen, die zu jener Zeit noch nicht auf der Welt unterwegs waren, sind jetzt ein paar erklärende Worte notwendig.
Von Deutschland nach Chile ist es ein langer Weg. Das Jet-Age war eben erst durch die Boeing 707 eingeläutet worden, welche aber gerade mal die Entfernung London- New York schaffte. Vielleicht hätte man auch damals schon auf kompliziertem Luftweg nach Chile reisen können, aber die Tickets wären astronomisch teuer gewesen. Für Gerd kam also nur der Seeweg infrage.
Solch eine Seereise war nicht nur langsam, sie war auch ein bedeutendes, existentielles Erlebnis. Wenn wir heute fliegen und von unserem Sitz im Airliner aus mit Freunden in allen Kontinenten telefonieren und Selfies teilen, dann sind wir überall und nirgendwo zugleich. Damals aber, von dem Moment, als die Leinen los waren, da gab es für den Reisenden nur noch das Schiff; das war von jetzt an seine Welt. Erst Wochen später könnte man wieder mit seinen Liebsten Kontakt aufnehmen, per Brief, über krächzendes Ferngespräch oder auch gar nicht.
Ja, damals gab es noch dieses segensreiche Geschenk für die Seele, welches uns der Fortschritt gestohlen hat. Damals gab es noch den Abschied. Es gab den kleinen Tod, den man stirbt, wenn man Freunde, Familie und das Land hinter sich lässt. Und dieser kleine Tod ist es, der dann an neuen Ufern ein Leben im neuen Hier und Jetzt möglich macht. Wie der Vogel Phönix, so verbrennt die Seele beim letzten Adieu an der Hafenmauer, um sich bei der Ankunft an neuen Gestaden gestärkt aus der Asche zu erheben.
An Bord der „Louis Lumière“
Für Gerd gab es diese wundervolle Erfahrung noch, als die „Louis Lumière“ im April 1961 im Hamburger Hafen ablegte. Vielleicht spielte da in seinem Kopf ganz leise das Lied von Hans Albers:
Mich trägt die Sehnsucht fort in die blaue Ferne,
Unter mir Meer und über mir Nacht und Sterne.
Vor mir die Welt – so treibt mich der Wind des Lebens.
Wein’ nicht, mein Kind, die Tränen, die sind vergebens.
Ob bei diesem Abschied ein schönes Kind an Land mit dem Taschentuch winkte und Tränen vergoss, das überlasse ich Ihrer Phantasie, lieber Leser, liebe Leserin. Möglich wäre es schon gewesen, denn unser Held, damals 20, genoss ohne Frage ein gewisses Interesse vonseiten der Weiblichkeit, und er selbst war dem schönen Geschlecht keineswegs abgeneigt.
Es ist also sehr gut möglich, dass dort am Kai ein gebrochenes Herz zurückblieb, das noch eine Weile hoffte, eine weiße Taube würde am Fenster erscheinen, mit einer romantischen Botschaft aus der Ferne …
Aber kommen wir zurück zur Realität.
Als naiv bezeichnen wir eine rechtschaffene Person, die fälschlicherweise auch alle anderen für rechtschaffen hält. Allgemeiner könnte man sagen, Naivität ist der Glaube, die ganze Welt sei so, wie wir es von zu Hause kennen.
Der Naive wird furchtlos in Fallen tappen, die seine Vorstellung nie hätte erfinden können. Doch diese naive Furchtlosigkeit ist auch ein Segen. Denn so lernt man die Welt schnell und gut kennen, auch wenn man sich dabei die eine oder andere blutige Nase holt. Das ist gesünder, als im Sandkasten mit Sturzhelm und Schutzbrille zu spielen und als Erwachsener dann aus Angst jeglichem Kontakt mit allem Fremden aus dem Weg zu gehen.
Natürlich hat sich Gerd Gedanken darüber gemacht, wie es wohl in der weiten Welt zuginge, insbesondere auch im gelobten Land Chile. Aber er wird kaum zu einem realistischen Bild gekommen sein, denn wir können uns keine Dinge vorstellen, die wir noch nie gesehen haben. Und auch die Bücher, die er verschlungen hat, etwa aus der Feder von Karl May, zeigten ihm kein getreues Bild der fernen Länder.
Es gibt da eine Geschichte von zwei Mönchen, die sich fortwährend mit der Frage beschäftigen, wie es wohl eines Tages im Jenseits wäre.
Um ihre Neugierde zu stillen, vereinbaren sie, dass der zuerst Verstorbene an einem bestimmten Tag zurück auf die Erde kommen sollte, um dem Hinterbliebenen vom Jenseits zu berichten. Da das Treffen vermutlich unter Zeitdruck stattfände, vereinbarte man kurze Codewörter. Wie es sich für Klosterbrüder gehört, waren die lateinisch:
„Taliter“ sollte bedeuten: Ja, im Himmel ist es so, wie wir beide es uns immer ausgemalt haben. „Aliter“ sollte heißen, es ist anders.
Endlich verstirbt einer der beiden, und gespannt wartet der Hinterbliebene auf den vereinbarten Termin. Da erscheint wahrhaftig der Besuch aus dem Jenseits in seiner Zelle! Und was wird er wohl berichten? Wäre es Taliter, wäre es Aliter?
„Totaliter aliter“ ist die Antwort.
Und so wird auch unser Held mehr als einmal die Erfahrung des „totaliter aliter“, des „vollkommen anders“ gemacht haben.
Das begann bereits auf dem Schiff, der Louis Lumière, benannt nach einem französischen Wissenschaftler, der viel Nützliches für die Photographie geleistet hat. Die Lumière war keine zehn Jahre alt, war 160 Meter lang und hatte Platz für Fracht und 400 Passagiere. Damals, 1961, wurden Güter und Menschen auf demselben Kiel transportiert. Mit dem Aufkommen der Container, in den 70er-Jahren, trennte man Passagiere von Waren, wobei der Personenverkehr schließlich zu 100 % in die Luft verlagert wurde. Die heutigen Passagierschiffe sind nur noch für moderne Kreuzfahrer bestimmt, deren Ziel es ist, sich die Zeit zu vertreiben.
Wir können annehmen, dass die Lumière mit 16 Knoten unterwegs war, das sind im Autofahrerjargon 30 km/h, also Schneckentempo. Allerdings macht sie das 24 Stunden am Tag, wenn sie mal unterwegs ist.
Ziel war Buenos Aires, am Rio de la Plata gelegen, und nicht etwa ein chilenischer Hafen. Das hat mehrere Gründe, unter anderem, dass man sich den langen Umweg ums stürmische Kap Horn spart. Es ist praktischer, von BA nach Santiago den Landweg zu nehmen, wobei auch das nicht immer problemlos ist, wie wir bald sehen werden.
Buenos Aires liegt rund 12.000 Kilometer Süd-Süd-West von Hamburg. Die Strecke könnte man mit besagter Geschwindigkeit in 17 Tagen schaffen. Nun sind da einige Hindernisse, die einer geraden Linie im Wege stehen, etwa die Bretagne oder Galizien. Denen weicht man besser aus, was die Reise natürlich verlängert, auf mehr als drei Wochen.
Auch fährt man unterwegs Häfen an, um Passgiere und Waren umzuschlagen. Die erste Station war Le Havre, am Ärmelkanal gelegen und fast in Sichtweite der englischen Küste. Man blieb hier lang genug, um an Land zu gehen und die Sehenswürdigkeiten dieser französischen Metropole zu besuchen.
Unter Zechprellern
Dazu gehörte auch eine Hafenkneipe, der Gerd bei dieser Gelegenheit einen Besuch abstatten würde. Und das kam so:
Während der ersten paar Tage auf See hatte er sich mit Matrosen und anderem jüngeren Personal des Schiffs schnell angefreundet. Er war beliebt, weil er anderen Menschen aufrichtige Wertschätzung entgegenbrachte und sich für ihre Arbeit interessierte. So zeigte man ihm gerne all die interessante Technik und Maschinerie an Bord, und er gehörte fast mehr zur Mannschaft als zu den Passagieren.
Es war der Abend, bevor die Lumière wieder in See stechen würde, und einige der jungen Seeleute luden ihn ein, auf ein paar Bier mit an Land zu kommen. Gerd wiegelte ab, da er kein Geld hatte. „Macht nichts, komm trotzdem mit“, sagten die Jungs. So landete man also in der Bar „La Petite Fille de la Mer“ und ließ es sich gut gehen. Man lud auch ein paar Damen ein und das Bier floss in Strömen.
Irgendwann kommandierte der Anführer der Gruppe unseren Helden, auf die Toilette zu gehen. Das war eine recht ungewöhnliche Aufforderung. Was steckte dahinter? Man würde über die Toilette und den Hinterausgang aus der Bar fliehen. Warum? Weil niemand Geld hatte.
Der Plan gelang, die Jungs rannten davon, was das Zeug hielt, der Wirt ihnen hinterher – Pistole in der Hand. Gerd war der kleinste, aber der schnellste. Jetzt profitierte er von seinem athletischen Training, das er im Hannoverschen Treppenhaus und im Priesterseminar genossen hatte – wenngleich man dort vermutlich ein anderes Ziel im Auge hatte als die Vorbereitung auf eine erfolgreiche Flucht als Zechpreller.
Mitgegangen, mitgehangen. Es war eine überraschende Lektion für Gerd, der nun eine Erfahrung mehr und eine Illusion weniger hatte.
UND HIER EIN FREUNDLICHER GESCHENK-TIPP