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Wieder zu Hause
Der Empfang
Die Budapester Tage und Nächte waren vorüber, ich war wieder daheim. Ich hatte das „Bootcamp“ in Ungarn nicht nur überlebt, sondern mir dort einen Orden verdient. Der Weg zum ranghohen Offizier lag vor mir: Ich würde demnächst die alleinige Geschäftsführung des Bereiches Industrieprodukte übernehmen. Als solcher wäre ich Nachfolger des großen Anton Bähr, Gründer und Leiter der extrem erfolgreichen Baco-Gruppe.
Zunächst eine kurze Schilderung meines Heimkommens. Schon in Budapest hatte ich anlässlich seines überraschenden Besuches erneut Kontakt mit Herrn Bähr gehabt. Der stand eines Tages mitten in meinem Büro; als ich aus der Werkhalle zurückkam, stolperte ich beinahe über ihn. Schon bei dieser Gelegenheit teilte er mir seine Zufriedenheit über die Entwicklung von Piroska mit und seine Zuversicht bezüglich meiner baldigen Mitarbeit in der deutschen Zentrale.
Bald nach Beginn meiner Tätigkeiten in Fulda gab es die Jahrestagung der Baco, eine aufwendige Veranstaltung mit hochkarätigen Persönlichkeiten aus der Kfz-Industrie. Am Präsidialtisch saßen neben der Baco-Führungsriege unter anderen ein Ex-Vorstand der VW AG und der Präsident des Verbandes der Deutschen Automobilindustrie.
Letzterer äußerte Folgendes in seiner Rede:
„Was ich heute über das Werk in Ungarn gehört habe, hat mich sehr bedrückt. Trotz all der Arbeit von Ihnen war es möglich, dass es solche Zustände gab. Gut, dass wir aber fähige Leute in unseren Reihen haben, welche couragiert an solche Themen herangehen und sie einfach lösen.“
Dieser Lobeshymne schloss sich Anton Bär wie folgt an:
„Was in Ungarn vorgefallen ist, übersteigt meine Vorstellungskraft. Gott sei Dank hatten wir Herrn Merck, welcher alles erkannt und auf den richtigen Weg gebracht hat. Ich freue mich sehr, Sie, Herrn Merck, in einigen Tagen hier in Fulda begrüßen zu dürfen, um Sie als meinen Nachfolger für die Geschäftsführung des Industriebereiches einzuarbeiten.“
Die Schallplatte wurde noch ein paarmal von anderen hohen Herren aufgelegt. Es blieb also niemandem im Raume verborgen, dass ich offensichtlich etwas Außergewöhnliches geleistet hatte. Immerhin waren wir in einer Branche tätig, in der das schwäbische Motto gilt: „Nichts gesagt ist schon genug des Lobes.“
Dazu kam, dass man mich, einerseits wegen meiner zukünftigen Rolle bei Baco, andererseits wegen der ungarischen Leistungen, mit an den Präsidialtisch gesetzt hatte. Da ich mich bei jeder Erwähnung durch einen Redner von meinem Stuhl erheben musste, um dankbar und bescheiden meinen Bückling zu machen, konnte mich wirklich keiner übersehen.
Auch wenn ich die Szene hier mit Ironie färbe, ich habe mich ehrlich über die Anerkennung gefreut, die mir zuteilwurde, und darüber, dass ich mit Spitzen der deutschen Wirtschaft an einem Tisch saß. Nicht Beziehungen oder Schmeicheleien hatten mich dahin gebracht, sondern lupenreines Management im Dienste anderer verbunden mit persönlichem Höchsteinsatz.
Der Gründer
Der rote Teppich in Fulda war also für mich ausgerollt. Ich musste nur noch die Treppe hochgehen und mich vom Eigentümer in den neuen Job einweisen lassen.
Anton Bähr war und ist einer der unbesungenen Helden unserer Wirtschaft und damit unserer Gesellschaft. In den Fünfzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts arbeitete er bei einer Firma für Gummiprodukte, wie sie in der Industrie gebraucht werden: Schläuche, Dichtungen, dehnbare Befestigungen etc. Ein Blick unter die Motorhaube zeigt Ihnen, dass auch die Automobilindustrie ein eifriger Abnehmer solcher Artikel ist. Er war 21 Jahre alt, als ihm einfiel, dass er statt als Angestellter sein Leben lieber als Unternehmer verbringen möchte.
Die von ihm damals gegründete Firma hat heute mehr als 4000 Arbeitsplätze und insgesamt, entschuldigen Sie die kleine Kopfrechnung, in ihrer Geschichte über eine Million Gehälter an Angestellte überwiesen. Mehr als eine Million Mal konnten eine Miete oder eine Hypothek bezahlt werden, Essen gekauft und Familienausflüge gemacht werden. Es sind die Unternehmer und Gründer wie er, welche den Unterschied machen, ob ein Land in chaotischer Armut vegetiert oder sich zivilisierter Lebensqualität erfreut. Es sind nicht die Politiker, welche den Unterschied machen. Die gibt es auch in Afrika.
Medien und Politik werden ja nicht müde, den „Mittelstand“ in ihrer jovialen Ignoranz großzügig als Lokomotive der deutschen Wirtschaft zu loben, ohne meist zu wissen, wovon sie reden. Nur wenige Journalisten oder Abgeordnete waren jemals in der Industrie tätig. In Herrn Bähr haben wir gerade ein lebendes Paradebeispiel für das, wovon immer gesprochen wird.
Neben seinem Erfolg machten ihn sein Wissen und sein umwerfendes Charisma zu einer einmalig anziehenden Persönlichkeit. Ich sollte nun das Privileg haben, von ihm persönlich gecoacht zu werden.
Nun ist Vermittlung von Wissen nicht nur im Interesse des Lernenden. Auch der Ältere, der sein Wissen und seine Erfahrungen mit dem verständigen jüngeren Menschen teilt, erfährt dadurch ganz instinktiv eine große Genugtuung. Dieser Instinkt war bei Anton Bähr besonders ausgeprägt, speziell auch mir gegenüber. So wurde ich, der ihn jetzt ständig begleitete, immer und überall Teilhaber seiner Weisheit. Das war höchste Qualität, aber es war des Guten zu viel.
Vielleicht hatte er ja seine Söhne von früh an in ähnlicher Weise beschallt und sie dadurch als aufgeschlossene Schüler verloren. Es schien, als habe er in mir endlich den erwünschten bildungsfähigen Sohn gefunden. Zwischen uns beiden entstand eine sehr enge Beziehung.
Seine Vitalität und die totale Identifikation mit der Firma gaben mir aber zu denken. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er mir als Geschäftsführer freie Hand lassen würde. Und, rüstig wie er war, würde das noch die nächsten zehn Jahre so sein! Ich glaubte zu beobachten, dass er zu meinen Ideen manchmal wie unter einem kurzen Schmerz zuckte. Es tat ihm weh zu erahnen, dass ich vielleicht Dinge anders machen würde als er.
Abschied
So reifte in mir die Entscheidung, die Rolle als Geschäftsführer nicht anzunehmen und Baco zu verlassen. Ich teilte Herrn Bähr meinen Entschluss im Gespräch mit, zusammen mit meiner aufrichtigen Begründung für den Schritt und der Hoffnung, dass wir als Freunde auseinandergingen. Er fiel aus allen Wolken, nahm meine Kündigung nicht ernst und wir hatten ein paar Tage lang keinen Kontakt.
Er kam dann zu mir, gab meinen Bedenken recht und gelobte, sich ab jetzt vollständig zurückzuziehen. Dieses Gelübde wollte ich etwas verbindlicher machen. Als Voraussetzung für mein Bleiben handelte ich mit ihm ein paar konkrete Felder aus, für die ich unbedingt Entscheidungsfreiheit wollte. Aber, fast wie erwartet, hielt er seine Zusagen nicht ein. Nach einem Monat gab ich ihm Feedback über all die Punkte, in denen er unsere Abmachung ignoriert hätte und händigte ihm meine schriftliche Kündigung aus.
Hatte ich richtig gehandelt? Es gab einiges, das ich im Nachhinein überlegte und vielleicht auch bereute. Zunächst waren da wirtschaftliche Konsequenzen. Ich war 44 Jahre alt, hatte keinen Job und meine Frau musste ihren sehr einträglichen Beruf aus gesundheitlichen Gründen aufgeben.
Andererseits war für mich die Vorstellung unerträglich, dass mir bei meiner Arbeit allzeit dreingeredet würde. Und nicht nur das, ich würde das entscheidende Instrument meines Erfolges einbüßen: meine kompromisslose Konsequenz und Klarheit.
Mein Fehler war zu glauben, dass ich Anton Bähr Zugeständnisse bei der Führung seines Unternehmens abringen konnte. Er machte die Spielregeln im Hause und er durfte sie brechen. Es wäre so, als würde Adam dem Herrgott vorschreiben, was er im Paradies zu tun und zu lassen hätte.
Die Kündigung war das Ende meiner Beziehung und meiner Freundschaft zu Anton Bähr; wir haben uns nie wieder gesehen oder gesprochen. Schade. Aber in meinem Business sollte ich inzwischen gelernt haben, dass es hier keine Freunde gibt, es gibt nur gemeinsame Interessen. Ein weiteres Mal hatte ich als Mohr meine Schuldigkeit getan.
Diese Erkenntnis ist leicht dahingesagt, es ist aber schwer, mit ihr zu leben. Welcher Fluch lag über meinem Beruf? Bei Piroska hatte ich beste Arbeit geleistet, die Großen der Branche hatten mich mit Lob überschüttet. Und auch den Auftrag davor hatte ich durchaus im Sinne der italienischen Mutterfirma durchgeführt. Ich hatte die Tochter in Deutschland vor dem Konkurs bewahrt. Und in jedem Fall kam es zum Eklat und zur blitzartigen Flucht aus der Szene meines Wirkens.
Jedes Mal hatte ich in kaufmännischer Hinsicht blühende oder zumindest keimende Gärten hinterlassen; auf zwischenmenschlicher Ebene aber gab es nur verbrannte Erde. In keinem Fall war das beabsichtigt und in keinem Fall hat es mich kaltgelassen. Warum kam das so? Warum zieht sich dieser rote Faden durch meine Karriere? Vielleicht werden Sie beim Lesen ja die Antwort finden. Ich kenne sie jedenfalls nicht. Noch nicht.
Aber auch Herkules war nicht der Mann, der an den Orten seiner Triumphe kleben blieb. Nach getaner Arbeit zog er weiter zur nächsten Herausforderung.
Apropos: Ich wollte Ihnen ja noch verraten, wie es ihm mit seiner Arbeit bei König Augias gegangen ist. Erinnern Sie sich? Er hat es tatsächlich geschafft! Nicht mit Schaufel und Schubkarren, sondern indem er durch geschickten Dammbau den Lauf zweier Flüsse so umleitete, dass diese durch den Stall der 3000 Rinder strömten und die gewaltigen Mengen an Unrat mit sich nahmen. Als er nun den vereinbarten Lohn von König Augias forderte – ein Zehntel der Herde – da wollte der sich an nichts mehr erinnern. Es kam zum Streit, in dem der unredliche König durch das Schwert des Herkules gefällt wurde. Letzterer aber zog frohen Mutes weiter zu seiner nächsten Aufgabe.
Nach dem letzten Arbeitstag bei Baco fuhr ich spätabends von Fulda nach Hause. Ich war nachdenklich und hatte keine Lust, dem Daimler, so wie sonst, die Sporen zu geben. Wir rollten bei sternenklarem Himmel durch anmutige Landschaft. Da kam ganz unerwartet eine Stimme übers Telefon.
Stimme: | Hallo Andy, ich bin’s, ich bin’s. |
Ich: | Wer ist denn da? Komisch, das hat doch gar nicht geklingelt … |
Stimme: | Das ist doch jetzt ganz egal Mann. |
Ich: | Ja, wer ist es denn? |
Stimme: | Ich bin’s, dein Unterbewusstsein. |
Ich: | Ach so, was gibt’s denn? |
Stimme: | Ja, wegen der Kündigung bei Baco, da machst du dir doch jetzt einen riesen Kopf! Lass das bloß sein. |
Ich: | Du machst es dir leicht, ich trag doch hier die Verantwortung. Jetzt hab ich keinen Job. Denk mal an das Gehalt und die Vergünstigungen, die Karriere, vielleicht eines Tages GF von ganz Baco. |
Stimme: | Mann, red’ keinen Scheiß; das war uns beiden doch von Anfang an klar, dass du die Sache in Fulda nie machen würdest. Sowas ist doch nichts für uns. |
Ich: | Wie kommst du denn darauf? |
Stimme: | Wir brauchen was, wo wir allein gegen den Rest der Welt kämpfen. Vergiss nicht, der Starke ist am mächtigsten alleine. So was wie Piroska – das war das Richtige! |
Ich: | Piroska? Budapest? Das war doch die Hölle! |
Stimme: | Ja, es war die Hölle, aber es hat Spaß gemacht. |
Und hier bekommen Sie den kompletten Roman |
Ganz große Klasse – ihre Schilderungen aus Ungarn haben mir einige Minuten der Ablenkung geschenkt.
Ich wünsche Ihnen alles Gute und werde, solange ich noch die Möglichkeit habe,, Ihre Artikel geniessen,.
Viele Grüße, Wolfgang Schüler