Bild: Julius Drost / unsplash

Game of Thrones

 

Willkommen zurück

Es geht auf das Ende des Jahres 2012 zu. Wissenschaftler des europäischen Forschungszentrums CERN weisen das „Gottesteilchen“ nach, Barak Obama wird für eine zweite Amtszeit im Weißen Haus bestätigt und Andreas Merck erhält einen Hilferuf von der Grillo GmbH, dem norddeutschen Spezialisten für exklusive Wurstwaren.

Sie haben Grillo kennengelernt, ich war ja schon 2009 intensiv für das Unternehmen tätig gewesen und habe Ihnen an entsprechender Stelle berichtet. Als ich damals 2010 nach meinem letzten Arbeitstag vom Firmengelände fuhr, hatten die Grillos keine dankbaren Abschiedsworte für mich. Sie atmeten auf, dass sie wieder unter sich waren, um ihr „Game of Thrones“ ungestört weiterspielen zu können.

Angesichts des Hochmuts der Familie musste es sich um eine dramatische und existenzielle Notlage handeln, wenn man jetzt erneut meine Hilfe suchte; es war ein Gang nach Canossa.

Dass es so weit gekommen war, dafür war nicht die wirtschaftliche Lage in Deutschland verantwortlich. Wie wir sehen werden, waren es Inkompetenz und Maßlosigkeit der Familie, die in kurzer Zeit ein Werk zerstört hatten, das über ein Jahrhundert lang aufgebaut worden war.

Bevor wir uns den unternehmerischen Aspekten widmen, lassen Sie uns zunächst einen Blick auf die Menschen werfen, denn das Problem entsprang ja primär aus deren Seele. Lassen Sie uns die einzelnen Personen untersuchen, durch deren Charakter der tragische Ausgang des Dramas schicksalhaft vorgezeichnet war.

Willkommen bei „Ende einer Dynastie“, dem finalen Kapitel im Leben einer hanseatischen Familie.

 

Ein halber König

Der König wurde nicht allein geboren. Mit ihm erblickte ein Bruder das Licht der Welt, der ihm zwar nicht gleich war, aber doch sein Zwilling. Zwischen beiden herrschten vollkommenes Verständnis, tiefes Vertrauen und aufrichtige Anerkennung.

In ihrer Jugend nahmen sie bei gemeinsamen Spielen, entsprechend ihrem Naturell, unterschiedliche Rollen an, was ihre Verbundenheit eher noch stärkte.

Der König nahm sich eine Frau, die ihm viele Jahre lang keine Kinder schenkte. So adoptierten die beiden ein Mädchen, die „Prinzessin“ und dann einen Jungen, den „Infanten“. Daraufhin gebar die Königin einen Sohn, den „Prinzen“.

Der König liebte die Prinzessin von ganzem Herzen; die Bande zu seinem Sohn waren dagegen zwiespältig. Der Prinz hatte gerade diejenigen väterlichen Merkmale in hohem Masse übernommen, die der König an sich selbst verachtete: Selbstsucht, Arglist und Mangel an Scharfsinn. Deswegen war die väterliche Liebe vermengt mit dem Vorwurf an den Sohn, dass er nicht so gediehen war, wie gewünscht. Eltern verzeihen ihren Kindern diejenigen Fehler am wenigsten, die sie ihnen selbst anerzogen haben.

Es wäre nicht angebracht, hier über das Versagen des Königs als Erzieher zu berichten, hätte es nicht schwerwiegende Folgen für das Wohlergehen des Reichs gehabt. Der König nämlich übergab die Regierungsgeschäfte zur Gänze seinem Sohn, obwohl ihm seine Intuition davon abriet. Er tat dies einerseits, um dem geliebten Sohn eine Chance zu geben, andererseits, um dem missratenen Sohn gegebenenfalls sein Versagen vor Augen zu führen, und nicht zu allerletzt, weil es die Königin so wollte.

Hat der König ab diesem Zeitpunkt die Arbeit seines Sohnes mit wachen Augen, klarem Verstand und an kurzem Zügel verfolgt? Es hätte ja Grund genug dafür gegeben. Er tat es nicht und der Prinz ließ es auch nicht zu. Und als es zu spät war, als nur noch ein Wunder helfen konnte, da suchte er endlich fremde Hilfe – beim Zauberer.

Der kluge Bruder

Die Tatsache, dass König und Bruder einander blind verstanden und vertrauten, heißt nicht, dass ihre Charaktere ähnlich waren. Der eine war ein Edelmann, der andere ein Hasardeur. Dieser Unterschied sollte vor allem in den späteren Krisen deutlich werden. Die kleinen Schwindeleien des Königs wuchsen sich dann zu regelrechtem Betrug aus. Wer die Hand schon im Schlamm hat, dem fällt es eben leichter, den ganzen Arm einzutauchen. Der noble Mann bleibt sauber, in guten wie in schlechten Zeiten.

Die Brüder hatten das Reich vom Vater geerbt, als sie in ihren Zwanzigern waren. Ihre perfekte Kooperation brachte während dreier Jahrzehnte Erfolg und Wohlstand für die Dynastie und das Gefolge. Als dann Prinz und Prinzessin in ein Alter kamen, in dem Wünsche und Pflichten zur Führung des Reiches Gestalt annahmen, da machte der Bruder bereitwillig Platz und übergab Besitz und Herrschaft an die junge Generation. Er zog sich aus den täglichen Regierungsgeschäften zurück, blieb dem Reich aber weiterhin mit großem Interesse und in tiefer Liebe verbunden.

Seine Distanzierung blieb nicht ohne Folgen. In seiner Abwesenheit veränderte sich der Charakter des Imperiums. Seine Noblesse, die früher das Geschehen geprägt hatte, wurde verdrängt durch eine weniger edle Gesinnung, welche die Atmosphäre am Hofe in anderem Ton zu färben begann. Dieser Wandel bereitete dem Bruder viel Schmerz, insbesondere auch der Schwund von Ehre und Ansehen, welche die Dynastie über mehrere Menschenleben genossen hatte.

Es soll aber bereits an dieser Stelle bemerkt werden, dass am Ende der Tage, als nach dem finalen Zusammenbruch der Rauch und der Staub sich gelegt hatten, dass zu dieser Stunde null der Bruder die geringsten Einbußen erlitten hatte. Sein Leben ging weiter, in Fülle und Wohlstand. Klugheit und Ehrlichkeit waren vom Schicksal belohnt worden.

 

 

Der Prinz

Prinzen haben es gut, man macht ihnen der Herkunft wegen Zugeständnisse. Man setzt aber auch besondere Erwartungen in sie, denn das Schicksal vieler wird eines Tages von ihrer Klugheit, Tapferkeit und Redlichkeit abhängen. Wie war es bei unserem Prinzen um diese Tugenden bestellt?

Die Frage wollen wir hier schon beleuchten, ohne Geschehnisse vorwegzunehmen, welche den Inhalt der Tragödie selbst bilden werden. Was außer Frage steht war des Prinzen einwandfreie Etikette, sein höfisches Verhalten, so wie man es bei einem Vertreter seines Standes voraussetzt. Dank dieser guten Umgangsformen gewann er Menschen schnell für sich und erwarb ihren Respekt.

Es soll aber auch erwähnt werden, dass diese seine noble Seite eine brüchige Oberfläche war, welche in Momenten von Not und Gefahr wie schlechter Lack von einem eleganten Stilmöbel blätterte. Doch sind es genau solch kritische Situationen in denen Taktgefühl und Contenance entscheidend sind. Der Prinz aber, der in guten Zeiten Überlegenheit und Freundschaft ausstrahlte, verwandelte sich dann schlagartig in ein von Wut und Feigheit geschütteltes Rumpelstilzchen.

Und so wie es für ihn in guten Zeiten ein Leichtes war, Respekt und Zuneigung zu gewinnen, so verspielte er diese wieder, wenn er die Kontrolle über die Dämonen verlor, die in ihm walteten.

Was war der Ursprung seiner Launenhaftigkeit, wovon ernährten sich seine Dämonen? Wie wir alle – mehr oder weniger – so trug auch der Prinz so manche Lebenslüge in sich herum. Und wir alle haben gelernt, dass die Dämonen in uns Alarm schlagen, sobald solch eine Lebenslüge droht, ans Licht des Tages zu treten. Es genügt auch schon, dass eine dumme Situation unsere Lebenslüge offenbart, und die dunklen Kräfte mobilisieren sich.

Zur Veranschaulichung hier ein harmloses Beispiel. Die Mehrzahl von uns Männern hält sich für gute Autofahrer. In vielen Fällen ist das eine Lebenslüge. Macht nun so jemand einen Fehler am Steuer, dann ist es nicht ratsam, die Situation mit einem „… und redest immer so, als wärst du Michael Schumacher …“ zu kommentieren. Besser wäre: „Unglaublich! Der pennt wohl noch, der Idiot da vorne.“ So bleiben die Illusionen erhalten.

War der Prinz ein guter Autofahrer? Wir werden darauf zurückkommen. Seine zentrale Lebenslüge bestand darin, dass er sich befähigt fühlte, das Familienunternehmen eines Tages zu führen. In einer Nische seines Bewusstseins schlummerte zwar die Vermutung, dass er davon meilenweit entfernt wäre, aber er tat alles, um diese Vermutung nicht zur Erkenntnis werden zu lassen.

Fakt war, dass er als mäßiger Hobbypilot im Cockpit eines Air­liners mit ein paar hundert Passagieren an Bord nichts verloren hatte. Er wüsste nicht, wozu all diese Hebel und Knöpfe gut waren, und ihm war auch nicht klar, wohin die Reise gehen sollte. Dennoch würde er beherzt Steuer und Gashebel zum Anschlag schieben in der Meinung, dass er als Kapitän das ja darf.

Er hatte weder die Ausbildung noch die intellektuelle und charakterliche Ausstattung zur Führung der Firma, lief aber seit Jahren mit dem Anspruch darauf herum. Er war wie ein mäßig interessierter Flugschüler, der aber schon die Kapitänsuniform im Schrank hängen hatte, die ihn viel mehr interessierte als die Luftfahrt selbst.

Natürlich war er nicht der Einzige, der dieses Problem ahnte. Doch Vater und Mutter war, wie erwähnt, der Blick durch elterliche Liebe getrübt. Ansonsten war das Thema am Hofe Grillo ein Tabu, an dem aus Taktgefühl oder Opportunismus nicht gerüttelt wurde.

Apropos Autofahren – während einer Besprechung auf oberster Ebene der Firma geschah einmal Folgendes: Der Prinz fühlte sich durch eine Bemerkung gekränkt. Seine zentrale Lebenslüge war tangiert worden und einige Dämonen machten sofort mobil zum Frontalangriff. Der Prinz sprang auf, verließ den Raum, knallte die Tür, lief zum Parkplatz, stieg in seinen Porsche und verließ das Firmengelände mit hoher Geschwindigkeit – durch die geschlossene Schranke …

Nichts wie weg, wenn die Wahrheit droht.

Die Kugel aus Gold

Die Prinzessin war nicht des Königspaares leibliches Kind. Sie lag eines Morgens in ihrem Körbchen aus Weidengeflecht am Eingang des Palastes und wurde voller Liebe als erster Spross in die Familie aufgenommen. Besonders der König war von ihrer Anmut und ihrem fröhlichen Gemüt tief berührt. Sie hatte vom ersten Moment an einen besonderen Platz in seinem Herzen – für immer.

Ihre Kindheit und Jugend waren sorglos und fröhlich. Gerne verbrachte sie sonnige Nachmittage im Garten und spielte mit einer Kugel aus Gold. War sie des Spiels überdrüssig, so kehrte sie in den Palast zurück und plauderte mit dem Gesinde, dem Infanten oder mit ihrer Stiefmutter, der Königin.

Vielleicht ahnen Sie ja, wie die Geschichte weiterging? Eines Tages beim Spiel rollte die goldene Kugel in den Brunnen und die Prinzessin war sehr traurig. Aber wann immer sie etwas grämte, war schnell jemand zur Hand, der sie tröstete und der gerne half. Nun, meinetwegen, lassen Sie es einen Frosch gewesen sein, der ihr die Kugel suchte. Tatsache ist, dass sie bald danach verlobt war. Ihr Prinz war absolut ebenbürtig. Er kam aus einem weit entfernten Gau, aus einem Geschlecht, welches im gleichen Gewerbe tätig war wie die königliche Familie selbst. Auch er hatte eine behütete und sorgenfreie Jugend gehabt. Und auch ihm war verborgen geblieben, dass Adel verpflichtet. Zwar genoss er gerne die Privilegien seines Standes, die Pflichten kannte er nicht. Die beiden waren aus demselben Holz geschnitzt.

Sie heirateten, hatten entzückende Kinder, und hätte die Prinzessin nicht den Wunsch gehabt, sich die Zeit zu vertreiben, indem sie am Hofe bei der Arbeit half, dann wäre für das Paar alles weitergegangen wie im Märchen. Aber so richtete der König ihr ein besonders schönes Büro im Palast ein, in dem sie fast so gerne war wie früher im Garten, als sie mit der goldenen Kugel spielte. Und auch jetzt, wenn ihr die Zeit zu lang wurde, dann ging sie nach Hause und war bei ihren Kindern. Und auch jetzt in ihrem Büro war immer eine hilfreiche Seele zur Stelle, wenn es ein Problem gab, so wie damals am Brunnen.

 

Die Königin der Nacht

Die Königin war eine herrschsüchtige Person; sie war nur von wenigen am Hofe gelitten. Deshalb vermochte sie ihre Macht nicht auf offener Bühne zu entfalten und entspann ihr Wirken stattdessen hinter den Kulissen, abseits vom Rampenlicht. Sie war eine Königin der Nacht.

Die Mitglieder der engsten Familie konnten ihr nicht entkommen, sie waren ihrem Einfluss schutzlos ausgeliefert, insbesondere, der Prinz. Er war ihr natürlicher Protegé und sie unterstützte bedingungslos sein Streben nach Macht. Als dann, viel später, die Schuld des Prinzen am Verfall des Reiches für jedermann offensichtlich wurde, auch da noch leugnete sie sein Versagen und suchte die Fehler bei allen anderen.

So hat die Königin letztlich, wenn auch nur mittelbar, einen zen­tralen Einfluss auf die Geschicke gehabt, ein Einfluss, der ihr lange Zeit versagt war. Früher nämlich, als der König und sein Bruder gemeinsam das Reich sehr erfolgreich regierten, da wurden die Entscheidungen in der hermetischen Eintracht der Zwillinge getroffen, da waren die Gattinnen weder eingeweiht noch einbezogen.

Das fiel umso leichter, als die beiden ersten Damen am Hofe einander nicht besser gesinnt waren als die Königin Elisabeth von England und Maria Stuart. Letztere endete bekanntlich auf dem Schafott, auf Betreiben ihrer Widersacherin. Ob unsere Königin ähnliche Absichten mit des Bruders Frau hatte, das wissen wir nicht. Wenn dem so war, so hat sie ihr Ziel nicht erreicht – bis jetzt jedenfalls.

 

Der Infant im Glück

Der Infant hatte durch Adoption einen Platz im Hause Grillo gefunden, so wie die Prinzessin, war mit der aber nicht blutsverwandt. Er hatte keine Ambitionen im Spiel um den Thron. Im Gegensatz zu den anderen Höflingen hatte er jedoch ein realistisches Ziel, welches er konsequent verfolgte: Er wollte schwere Fahrzeuge lenken.

Dieser Wunsch sollte sich für ihn realisieren und er würde darin seine Erfüllung finden. Und auch heute sitzt er noch zufrieden lächelnd im Führerhaus seines Vierzigtonners.

 

Der Zauberer

Ernst zu nehmende Zauberer, ob gut oder böse, ob Mann oder Weib, haben etwas gemeinsam: Sie fraternisieren nicht mit ihrem Auftraggeber. Sie leiden nicht mit den Menschen, die ihre Hilfe suchen, und feiern nicht mit ihnen, wenn durch ihr magisches Zutun das ersehnte Glück eintritt. Nach getaner Arbeit verschwindet der Magier in seine geheimnisvolle Welt, von der die irdische Klientel nichts versteht.

Mein Aufenthalt am Hofe der oben skizzierten Dynastie Grillo war wesentlich länger als sonst üblich. Dennoch fiel es mir leicht, zu meinen Klienten gefühlsmäßig auf Distanz zu bleiben. Es gab weder Empathie noch Sympathie. Einzige Ausnahme war der kluge Bruder, zu dem ich gelegentlich eine Seelenverwandtschaft spürte. Diese äußerte sich aber höchstens durch sparsame Gesten, etwa durch ein gemeinsames Kopfschütteln über das eine oder andere Mitglied der königlichen Familie.

Ja, ich war vier Jahre der Zauberer am Hofe Grillo. Über welche magischen Kräfte verfügte ich, um derentwillen man mich in großer Not gerufen hatte? Wofür war man bereit, den einen oder anderen mit Dukaten prall gefüllten Sack zu opfern? Was kann ich, wozu sonst niemand fähig ist?

Meine besondere Fähigkeit ist: Ich kann anerkennen, was ist. Ich konnte die Wirklichkeit im Hause Grillo klar sehen und hatte den Willen und die Disziplin, entsprechend zu reagieren. Das war den Mitgliedern der königlichen Familie verwehrt, deren Blick durch Ehrgeiz, Stolz und Selbstgefälligkeit getrübt war, manchmal bis hin zu totaler Blindheit. Für meine Fähigkeit, die ich im Sinne meines Auftrages rigoros zum Einsatz brachte, war man mir nicht dankbar. Meine Klienten waren mir böse, weil ich ihnen, wenn auch nicht durch Worte, so doch durch mein Handeln den Spiegel vor Augen hielt, in dem sie ihre Versäumnisse und ihren Müßiggang erkannten.

Kein Zauberer erntet letztlich Dank. Deswegen muss er seinen Lohn vorab aushandeln. Manchmal muss er darum später, nach getaner Arbeit, kämpfen. Und er wäre kein guter Zauberer, wenn er dann verlöre.

 


Und hier bekommen Sie den kompletten Roman 

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