published 26.09.2021

Bild: Julius Drost / unsplash

In der Hundepension

Ich möchte Sie schon an dieser Stelle warnen, lieber Leser. In dem Buch, das Sie in Händen halten, geht es um Schwierigkeiten. Genauer gesagt, es geht um Unternehmen, die in Schwierigkeiten geraten sind und die jetzt gerettet werden sollen. Das ist nichts zum Lachen.

Vielleicht überlegen Sie jetzt, ob Sie überhaupt weiterlesen wollen – schließlich sind Sie weder an Problemen interessiert noch an kränkelnden Firmen, zu denen Sie keinerlei Beziehung haben. Da kann ich Sie gut verstehen. Aber an Menschen sind Sie vielleicht interessiert?

Dazu eine kleine Geschichte: Neulich brachte ich „Snoopy“, den Vierbeiner eines Geschäftsfreundes, welcher eilig verreisen musste, in eine Hundepension. Zu Snoopys Einlieferung hatte ich ein Formular auszufüllen: Alter des Tieres, Gewicht, Kontakt­person, besondere Gewohnheiten etc. Während ich am Computer tippte, checkten andere Vierbeiner aus oder ein. Fürsorgliche Herrchen und Frauchen stellten Fragen oder gaben Anweisungen, auf welche die Managerin des Hauses kompetent und freundlich antwortete.

Als Snoopy und ich dann an der Reihe waren, versuchte ich etwas Geistreiches zu ihr zu sagen: „Was Sie alles über Hunde wissen! Sie könnten ein Buch schreiben.“ „Ja“ meinte sie, „allerdings weniger über Hunde als über Menschen.“

Ich habe mich in meiner beruflichen Laufbahn darauf eingeschossen, Firmen in Not zu helfen. Deren Bedrängnis war stets das Resultat sehr unterschiedlicher Managementfehler, welche sich wiederum aus spezifischen menschlichen Eigenarten ableiten ließen: Ungeduld, Ehrgeiz, Verblendung, Arglist, Furcht oder Dummheit. So zielten meine Aktivitäten zwar immer auf geschäftliche Verbesserung, das zentrale Thema aber waren stets die beteiligten Personen mit ihren Stärken und Schwächen.

Ob die freundliche Managerin der Hundepension inzwischen ihr Buch geschrieben hat, das weiß ich nicht. Ich habe es getan, und es ist ebenfalls ein Buch über Menschen geworden. Es liegt vor Ihnen und ich kann Sie nur ermutigen weiterzulesen, Sie werden es nicht bereuen.

 

Anna Karenina

Warum nun geraten Firmen in Probleme? Muss das sein? Es gibt sicherlich Unternehmen in der gleichen Branche, im selben Land, vielleicht in derselben Stadt, denen es blendend geht. Warum gedeihen die einen, während die anderen zugrunde gehen?

Das ist keine einfache Frage. Leo Tolstois Roman „Anna Kare­nina“ beginnt mit einem Satz, der uns vielleicht weiter hilft: „Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich; unglückliche Familien sind jede auf ihre eigene Art und Weise unglücklich.“ Gilt das auch für Unternehmen? Sind erfolgreiche Firmen einander ähnlich? Scheitern erfolglose jeweils auf ihre eigene Art und Weise?

Im vorliegenden Text sind es vier Unternehmen in Not, welche die Bühne für meine berufliche Biographie liefern. Und in der Tat, wie Sie sehen werden, sind es durchaus unterschiedliche Ursachen, welche in jedem Fall das Unheil brachten – und durchaus unterschiedliche Resultate, die ich erzielen konnte.

Das dramatische Schicksal von Siegfried, dem sein Hochmut zum Verhängnis wurde, hat nichts gemein mit dem schleppenden Siechtum der norddeutschen Wurstfabrik, von der später die Rede sein wird. Und Piroska wiederum war von einem gefährlichen Parasiten befallen, der in unseren Breiten eher selten ist und der daher lange Zeit unentdeckt blieb. Wie es mir gelang, diesen Schmarotzer zu diagnostizieren und zu neutralisieren, auch davon wird die Rede sein.

Kommen wir zurück zu Leo Tolstoi. Könnte es einen logischen Grund für seine Behauptung geben? Da ist das Schicksal der schönen und anspruchsvollen Anna, deren Leben so früh und so tragisch durch ihre eigene Hand endete. Und da ist ihre bescheidene Cousine Dolly, deren untreuer Gatte sie in einer Hölle zwischen Rage und Depression gefangen hält. Zugegeben, das sind verschiedene Wege ins Unglück, aber es ist noch kein schlüssiger Beweis für die These des Autors.

Versuchen wir uns mit unserer Untersuchung an einem einfacheren Objekt als der menschlichen Familie, z. B. an etwas Technischem. Alle erfolgreichen Flugreisen sind einander ähnlich: Check-in, Security, Start, Reiseflug und pünktliche Landung. Gescheiterte Flüge dagegen haben eine sehr individuelle Note: Gänse fliegen ins Triebwerk, ein tropisches Gewitter wirft das Flugzeug in den Atlantik oder eine Bombe zerfetzt alles in tausend Teile. Das geht durchaus konform mit Tolstois Theorie: Der Erfolg hat immer ein ähnliches Profil, die Katastrophen entwickeln sich jede auf ihre eigene Art und Weise.

Der Grund ist, dass wir es beim Luftverkehr mit einer sehr komplizierten Angelegenheit zu tun haben, mit einem „komplexen System“, welches aus einer Unzahl verschiedener Elemente besteht, die alle irgendwie miteinander verknüpft sind. Versagt eines der Elemente, dann führt das zu einer Störung des geplanten Verlaufs, die kaum merklich oder auch existenziell sein kann. Angesichts der enormen Zahl verschiedener Elemente – sei es im Flugzeug selbst, sei es in seiner physikalischen und organisatorischen Umgebung – gibt es unzählige Varianten für Zwischenfälle.

Bei dem tragischen Air-France-Flug von Rio nach Paris, der 2009 in großer Höhe über dem Äquator in ein Gewitter geriet, vereisten Sensoren, welche die Geschwindigkeit messen sollen. Weder Pilot noch Autopilot konnten den Flieger dann noch in der Luft halten. Das ist ein ganz anderer Hergang als bei der von Sully Sullenberger gesteuerten Landung im Hudson River oder beim Absturz der Pan Am 007 über dem schottischen Städtchen Lockerbie.

Also: Funktionierende Systeme sind einander ähnlich, alle Elemente arbeiten wie geplant. Abstürze sind sehr unterschiedlich, je nachdem welches der Tausenden von Elementen versagt.

 

Lektion in Business

Ist ein Unternehmen auch ein System? Keine Frage. Aus welchen Elementen besteht es dann? Diese Frage wird im Studium der Betriebswirtschaft (BWL) beantwortet, und dort wird auch untersucht, welche Beziehungen die Elemente zueinander haben. Für unsere Zwecke wird es genügen, wenn ich die für jeden Fall relevanten Zusammenhänge der betroffenen Firma im jeweiligen Kapitel kurz skizziere. Eine komplette Abhandlung der BWL hat, Sie werden es verstehen, in diesem Buch keinen Platz. Und es könnte sein, dass Sie das Lesen dann relativ rasch einstellen würden.

Ich möchte an dieser Stelle aber versuchen, Ihnen zu veranschaulichen, worin mein Beruf überhaupt besteht. Dazu bitte ich Sie, sich vorzustellen, dass Sie an Ihrem Wohnort ein Geschäft mit ausgewählten Lebensmitteln für anspruchsvolle Kundschaft eröffnet haben. Das war schon immer Ihr Traum – und jetzt ist er wahr geworden.

Sie haben einen Laden angemietet und neu eingerichtet – großzügig, praktisch und geschmackvoll. Das haben Sie teils aus eigener Tasche gezahlt, teils über einen Bankkredit finanziert. Sie haben Annahmen über Umsätze und Kosten gemacht und errechnet, wann Sie Ihre Schulden bei der Bank abgezahlt haben könnten. Aber es entwickelt sich anders.

Die Kunden kommen nur zögerlich und der Umsatz bleibt hinter den Erwartungen zurück. Das hat noch eine weitere Folge. Verderbliche Ware, wie exotische Früchte oder katalanischer Schinken, bleibt liegen, verdirbt und wird entsorgt. Andererseits können Sie das Sortiment nicht verkleinern, dann finden die Kunden nicht, was sie wollen.

Was Sie besonders ärgert, ist, dass in einem ähnlichen, etwas kleineren Laden, gleich um die Ecke, das Geschäft brummt und die Kasse so laut klingelt, dass man es bis auf die Straße hören kann. Sie sind mit Ihrem Latein am Ende und holen sich einen Berater, einen Fachmann für Einzelhandel im Food-Sektor. Er gibt Ihnen ein paar Tipps in Sachen Einkauf, die einleuchten, auf die Sie alleine aber nicht gekommen wären. Dafür sind Berater da.

Sie gehen frisch ans Werk und setzen die guten Ideen in die Praxis um. Bald verbessern sich die Finanzen etwas, aber es kommen immer noch zu wenige Kunden. Sie fragen sich, was die Leute eigentlich genau für Bedürfnisse haben, wie Sie die befriedigen könnten und wie Sie die Menschheit wissen lassen, was in Ihrem Laden alles für Wünsche erfüllt werden – ein Job, der auch Marketing genannt wird. Auch hierfür finden Sie einen Berater. Er ist etwas teurer als der vorige, aber seine Ratschläge machen Sinn und Sie setzen sie um: zwei Bistrotische, Cappuccino und Croissants, Verbessern der Auslage, Website, telefonische Vorbestellung von ausgefallenen Delikatessen.

Das können Sie nicht mehr alleine bewältigen, Sie brauchen zwei Mitarbeiterinnen. Die Kosten steigen zwar dadurch, aber von nichts kommt nichts. Die Verbesserungen werden sich bald auszahlen. Allerdings müssen Sie die Bank jetzt nochmals um Geld bitten.

Aber es ist wie verhext, das Geschäft startet nicht durch. Alles scheint perfekt, nur die Kunden bleiben aus. Die Bank, die Ihnen bei Ihren Aktivitäten dezent über die Schulter schaut, wird jetzt etwas unruhig und bittet Sie zu einem Gespräch. Man mache sich ernsthafte Sorgen um die Entwicklung Ihrer Finanzen. Sie beschreiben dem Banker Ihre bisherigen Bemühungen. Es ist doch nicht Ihre Schuld, wenn die Kunden zur Konkurrenz gehen!

Mag sein, aber die Welt ist nicht gerecht und die Geschäftswelt am allerwenigsten. Jetzt wird Ihnen ein Angebot gemacht, welches Sie nicht ablehnen können: Entweder Sie restrukturieren Ihr Geschäft oder es gibt kein Geld mehr. Aber Sie haben doch schon alles versucht, was können Sie denn jetzt noch tun? Auch darauf hat die Bank eine Antwort: „Setzen Sie einen Fachmann für Restrukturierung ein, einen ‚Chief Restructuring Officer (CRO)‘, und wir haben da schon jemanden für Sie.“ Sie seien nicht die erste, die in solch eine Situation gerät, daher hat die Bank gute Kontakte zu erprobten Experten. So jemand kostet natürlich Geld, viel Geld sogar, aber dafür reicht die Kreditlinie noch aus.

Jetzt dämmert es Ihnen und Sie erkennen mit Entsetzen den Ernst der Lage. Es geht jetzt nicht mehr um die Farbe der Einrichtung, jetzt geht’s um Sein oder Nichtsein. Wenn dieser Anlauf auch schiefgeht, dann sind Sie alles los: Ihr Geschäft, aber noch schlimmer, die Hälfte Ihrer Eigentumswohnung, welche die Bank damals als Sicherheit gefordert hatte. Es geht um die Existenz. Der CRO, den man Ihnen schickt, ist freundlich, aber er macht mit dem ersten Satz klar, dass er jetzt das Sagen hat. In den Augen der Kunden bleiben Sie zwar die Chefin, aber er führt das Geschäft, er entscheidet. Das ist jetzt ein anderes Spiel als das mit den Beratern, deren freundliche, unverbindliche Tipps man annehmen konnte oder auch nicht.

Der CRO wird tief in Ihr Schicksal eingreifen. Sie können nur hoffen, dass der seine Sache gut macht – gut in Ihrem Sinne.

Auch er hatte Tolstoi gelesen und er hatte verstanden, dass erfolgreiche Firmen einander ähnlich sind. Was unterschied Sie von den erfolgreichen Konkurrenten? Hatten die etwas, was Sie nicht haben? Allerdings: Die hatten Erfahrung! Die hatten alle klein angefangen, sodass das Lehrgeld für Fehler nicht so teuer wurde. Über Jahre hatten sie gelernt, was funktionierte und was nicht; über Jahre hatten sie einen Kundenstamm aufgebaut, über Jahre hatten die das Konzept ihrer Läden in kleinen Schritten an den Markt angepasst, über Jahre waren die gewachsen, langsam aber stetig. Sie aber waren mit einem fertigen Konzept, einem großzügigen, eleganten Laden, erstellt nach Ihrem persönlichen Geschmack, kopfüber in die Arena gesprungen. Das Einzige, was Ihnen sicher war, das waren die hohen Kosten für den aufwendigen Start und Betrieb.

Der CRO ist professionell und unerbittlich. Zu allererst muss die „Burn Rate“ drastisch gesenkt werden: weg mit den Angestellten und Umzug in einen kleineren Laden. Es geht darum, ein Umfeld für Sie aufzubauen, dass nur minimale Kosten verursacht und dessen primärer Gewinn Ihre Erfahrung und Ihr Bekanntheitsgrad im Stadtviertel sind. Und tatsächlich: Es klappt. Kein Wunder, Sie sind ja fleißig und intelligent. Sie sind nur etwas ungeduldig. Schon fünf Jahre später haben Sie das realisiert, was Sie ursprünglich aus dem Stand erreichen wollten. Und die Schulden sind auch getilgt.

Was wäre wohl passiert, wenn Sie damals den CRO nicht akzeptiert hätten? Die Bank konnte Sie ja nicht zwingen. Nun, nach wenigen Monaten wären Sie insolvent geworden, Sie hätten Ihre Gehälter und Rechnungen nicht mehr bezahlen können. Korrekterweise hätten Sie bei Gericht die Insolvenz angemeldet. Man hätte dann einen Konkursverwalter geschickt, der Ihre Geschäfte übernommen und Ihre Firma „abgewickelt“ hätte. Sie wären geschäftlich entmündigt worden.

Und wenn Sie Ihre Insolvenz nicht gemeldet hätten? Dann wäre früher oder später der Gerichtsvollzieher gekommen …

 

 

Zehn Jahre als CRO

Auch ich bin ein CRO. Allerdings wären wir uns bei der Rettung Ihres Geschäftes kaum begegnet, denn meine Patienten kommen aus einem anderen Gewerbe. Ich bin sozusagen Facharzt für Krankheiten im Bereich der industriellen Fertigung. Das können technische Produkte sein, aber auch Lebensmittel.

Meine Sorgenkinder sind typischerweise Firmen mit einigen hundert Angestellten und mehreren Zigmillionen Umsatz. Da bringe ich manchmal auch Helfer mit, das sind dann meine „Re­structuring Officers (RO)“ und ich bin ihr „Chief“. Aber meine Arbeit ist kein „Teamwork“. Ich bin Einzelkämpfer und delegiere nur solche Aufgaben, für die ich keine Zeit habe oder für die ich zu teuer wäre.

Ich glaube auch, dass bei solch existenziellen Eingriffen Kommando und Verantwortung bei einer Person liegen müssen. Es handelt sich hier ja sozusagen um Operationen am offenen Herzen der betroffenen Unternehmen und nicht um ein bisschen Physiotherapie. Das überlasse ich den Beratern.

Bin ich meiner Verantwortung immer gerecht geworden? Beurteilen Sie das selbst, wenn Sie mit dem Lesen fertig sind. Sicherlich gibt es auch Kollegen, die mit einer anderen Einstellung an ihre Arbeit gehen als ich. Sie werden so jemanden bald kennenlernen …

Erlauben Sie mir noch einen Kommentar zu meiner Berufs­bezeichnung. „Muss es denn immer Englisch sein?“ werden Sie vielleicht fragen, „gibt es im Deutschen keine Bezeichnung dafür?“ Ich stimme Ihnen zu; die Inflation unserer Sprache mit halbverstandenen Vokabeln aus den USA vereinfacht die Kommunikation keineswegs. Aber ich verwende den Begriff CRO nicht, um Sie mit Sprachkenntnis zu beeindrucken, sondern weil das deutsche Wort irreführend wäre.

Die Übersetzung, die Sie im Lexikon finden – „Sanierer“ – erinnert an die Renovierung eines Altbaus, wo Sanitär, Elektro und Anstrich erneuert werden, aber die Mauern stehen bleiben. In meinem Job geht es ans Eingemachte, da bleibt kein Stein auf dem anderen.

Die Begebenheiten, über die ich berichten werde, ereigneten sich im Zeitraum, der beginnt, als sich in den USA die ersten dunklen Wolken der großen Finanzkrise zusammenbrauen, als in Frankreich Nicolas Sarkozy zum Präsidenten gewählt wird, als in Deutschland zum ersten Mal eine Kanzlerin regiert und als Mario Gomez vom VfB Stuttgart Fußballer des Jahres wird. Ich selbst war damals Anfang vierzig. Meine Schilderung endet zehn Jahre später, als sich Amerikas Wähler gegen Hillary entscheiden, als der Terror auch in Deutschland zuschlägt und als Bob Dylan eine Ehre zuteilwird, die Leo Tolstoi versagt war: der Nobelpreis für Literatur.

Meine Leistungen sind weder von historischer Bedeutung noch erwarte ich dafür eine Einladung nach Stockholm. Ich habe sie dennoch aufgezeichnet, weil sie einen ungeschminkten Einblick in das Räderwerk und in die Psychologie von Unternehmen geben, den Sie weder in Jahresberichten noch Managermagazinen finden. Ich wünsche Ihnen viel Spaß beim Lesen.

(und hier gibt es den kompletten Roman…)


 

 

 

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