published 26.12.2020
Bild: private
An diesem zweiten Feiertag, liebe Leserin, lieber Leser, möchte ich Sie für ein Paar Minuten in ein anderes Land und in eine andere Zeit entführen; in eine Welt, die nicht von Angst, fake news und Pessimismus geprägt ist, sondern von Freundschaft und Lebensfreude.
Hoch in den Anden
Männer interessieren sich für Ideen und Frauen interessieren sich für Männer, so wird jedenfalls behauptet. Das können dann recht ausgefallene Ideen sein, etwa in uralten Autos in möglichst hohe Berge zu fahren, um dort einen Salar zu überqueren, wo das Spritzwasser die Zündung lahmlegt und man endlich etwas zu reparieren hat.
Diese Idee kam von meinem Freund Gerd. Wir hatten uns 1978 in Chile kennengelernt, und besagte Fahrt, zu der er mich eingeladen hatte, war im Oktober 2018. Beim Wiedersehen in Santiago bestätigten wir uns mit knappen Worten, dass wir uns gar nicht verändert hätten, und gingen erst mal zum Golfspielen.
Die Rally, ein paar Tage später, war ein Projekt des „Club de Automóviles Antiguos de Chile“, der vor 50 Jahren von Gerd ins Leben gerufen worden war und welcher ein Zuhause für 100 Oldtimer ist, viele älter als ihre Eigentümer, aber oft besser erhalten. Gerd und ich waren in einem 1932 Chrysler Type 70 unterwegs; die Zahl steht für die Höchstgeschwindigkeit – in Meilen, bitte.
Alles war hervorragend geplant und organisiert. Bequeme Etappen wechselten mit solchen, die durchaus eine Herausforderung für Fahrer und Material waren.
Die Erdkrümmung
So etwa die Strecke von Uyuni in Bolivien nach Colchane, hoch in den chilenischen Anden gelegen. Wenn Sie einmal einen Film über das Ende der Menschheit drehen sollten, nehmen Sie das Dorf Uyuni als Kulisse und engagieren Sie die Bewohner als Statisten – trostloser geht es nicht. Nicht weit weg gibt es allerdings ein unvergleichliches Naturspektakel: ein riesiger ausgetrockneter Salzsee, der größte seiner Art. Angeblich bildet er die ebenste Fläche auf unserem Planeten – wenn man von der unvermeidlichen Erdkrümmung mal absieht.
Das Ganze liegt in 3600 m Höhe, was die menschlichen Sinne zusätzlich benebelt. So sind wir also, insgesamt vierzehn Autos, mit 70 mph über die angeblich perfekteste Oberfläche des Universums gedonnert, ab und zu aufgeweckt durch Schlaglöcher und Pfützen.
Am anderen Ufer angekommen ging es dann, zwar auf festem Boden, aber auf kaum erkennbaren Pfaden zum Zielort. Bald verschwand jegliche Spur und wir kämpften uns durch verkehrstechnisches Neuland. Ich kann mich allerdings gut an die Fahrtrichtung erinnern: genau West, denn die Sonne schien uns, flach stehend, voll in die Augen. Und das blieb auch so, bis die Nacht kam.
Im Blindflug unterwegs
Im Schein des Abendlichtes konnte man wunderbar die Salzkristalle beobachten, die sich auf der Windschutzscheibe gebildet hatten und die mit dem Staub eine strategische Allianz eingingen, um uns den Blick auf die Fahrbahn vollends zu verwehren. Unser Vehikel kam ja aus der Steinzeit, und mangels Scheibenwascher waren wir jetzt im Blindflug unterwegs.
Um zu überleben steckten wir unsere Köpfe durch das offene Seitenfenster, jeder auf seiner Seite. Gerd fuhr und ich rief ihm zu, wenn auf Steuerbord ein Felsblock oder ein Abgrund drohten. Diese Methode stellte sich bald als zu langsam heraus und so ergriff ich mit der linken Hand ebenfalls das Steuer, um Hindernissen auf meiner Seite auszuweichen. Am Klavier würde so etwas vierhändig heißen, wir fuhren zweihändig. Es war die Hölle, aber es hat Spaß gemacht!
Seines Glückes Schmied
Mein Freund Gerd zeichnet sich dadurch aus, dass er angesichts Schwierigkeiten und Risiken das gesetzte Ziel nicht aufgibt und die eigene Erschöpfung ignoriert. Das ist die Tugend, die für den Erfolg in allen Aspekten seines Lebens so entscheidend ist, nach dem Motto: „Such dir die schwerste Last, die du noch heben kannst, nimm sie auf deine Schultern und trage sie!“
Gerd bürdet sich Verantwortungen auf, die ein halbes Dutzend Durchschnittskerle gemeinsam nicht tragen könnten. Zunächst trägt er natürlich Verantwortung für seine Familie, auch für die erweiterte. Dann ist da die „Pastelería Mozart“, das in ganz Chile berühmte Konditoreiunternehmen, vor einem halben Jahrhundert gegründet und beständig gewachsen.
In einem der Geschäfte kam es Anfang der 90er Jahre zu einer bemerkenswerten Begegnung. Eine Kundin betrat den Laden und bei ihrem Anblick flüsterte Gerd den Verkäuferinnen zu: „A ella no se sirve – Die wird nicht bedient“. Nach ungeduldigem Warten verließ sie dann etwas frustriert das Geschäft. Es handelte sich um Margot Honecker, die sich nach der Wende in Chile abgesetzt hatte.
Die Hexen von Salamanca
Gerd und ich hatten uns beim Segelfliegen kennengelernt und so spielte die Luftfahrt oft eine Rolle in unseren Unternehmungen. Hier eine Episode aus dem Anfang unserer Pilotenkarriere.
In Chile gibt es nicht allzu viele Städte und nach ein paar Tagen hat man deren Namen im Kopf, es sind etwa zwei Dutzend. Einer davon ist Salamanca, gut 300 Kilometer nördlich von Santiago. Dieses Detail wird später von Bedeutung sein. Der Ort liegt in der Nähe der Panamericana, wobei das kein Verdienst ist, denn das trifft auf jede Stadt in Chile zu. Das Land ist ja nur 100 Kilometer breit und die berühmte Straße führt vom hohen Norden bis zum Ende im extremen Süden. Das sind dann allerdings 5000 Kilometer.
Salamanca hat auch einen Flugplatz, und ähnlich wie man in New York oder Paris von JFK oder Charles de Gaulle spricht, so hat auch dieser Platz seinen Namen: „Las Brujas“, „Die Hexen“. Im Juni 1980 flogen Gerd und ich mit unseren Freundinnen – Maria Teresa und Isabel – genau dort hin. Wir waren damals Mitte dreißig, also in dem Alter, in dem man unkaputtbar ist, und wir waren frischgebackene Piloten mit insgesamt hundert Stunden Flugerfahrung.
Die Maschine war eine Piper Cherokee ähnlichen Alters wie die Piloten, mit ein paar tausend Stunden mehr Flugerfahrung. Gerd und ich hatten die Maschine gemeinsam gekauft, und es war unser erster Trip mit Passagieren.
Flug und Landung in Las Brujas waren problemlos, ebenso der Stadtbummel und der Kaffee. Den Rückflug nach Santiago aber mussten wir uns aus dem Kopf schlagen, denn die Berge hatten sich inzwischen in Wolken gehüllt. Zwar haben die Gipfel der Anden bei Salamanca nur 2000 Meter, aber sie sind dennoch hart und unerbittlich.
Nun gab es in Salamanca ein Hotel, in dem man die Nacht sicher und bequem verbringen konnte, in der Hoffnung, dass der nächste Tag freundlicher wäre. Wo war also das Problem? Das lag bei den Eltern von Maria Teresa. Zwischen ihnen und Gerd bestand der unausgesprochene Vertrag, dass die Tochter vor Mitternacht unversehrt und unbescholten im Elternhaus zu sein hatte. Das war eine heilige Konvention und sie war nicht verhandelbar. Wollte er sich nicht alle Chancen als Schwiegersohn verspielen, so musste jetzt eine Lösung gefunden werden.
Lassen Sie mich an dieser Stelle einfügen, dass Maria Teresa eine äußerst anmutige Komposition aus Charme, Intelligenz und elementarer Schönheit ist. Auf einer Skala von Null bis zehn würde sie irgendwo zwischen zwölf und fünfzehn landen. Für Gerd stand also einiges auf dem Spiel.
Warum haben wir nicht einfach den Zug nach Santiago genommen? Willkommen in der Pampa. Einen Zug nach Santiago gab es genauso wenig wie Uber oder Mobiltelefone. Aber es gelang dennoch nach einigen Stunden, ein Auto dingfest zu machen, welches uns für eine astronomische Summe die 300 km nach Santiago fahren würde.
Wir kamen schließlich noch rechtzeitig zu Hause an und die Ehre und die Ehe waren gerettet. Ja, Tere und Gerd haben natürlich geheiratet.
Tuco und Tico
Es war eine der Eskapaden, die uns beiden im Fliegerclub die Spitznamen „Tuco y Tico“ einbrachten. Das sind zwei liebenswerte Tukane – tropische Vögel – aus einem Comic, die dauernd Unfug machen und doch jedes Mal davonkommen, wenn auch mit zerrupften Federn.
Gerd lief im Club auch unter dem Label „Gringo“. Das ist bei Latinos die generische Anrede für jeden, der aus der zivilisierten Welt kommt. Der Name kann, wie so vieles in Chile, sowohl freundliche als auch verächtliche Hintergedanken in sich bergen.
Gerd aber war im Club sehr beliebt und genoss die aufrichtige Anerkennung der chilenischen Kumpel. Das war keine Selbstverständlichkeit, denn die erste Reaktion, die ein Deutscher erfährt, ist nicht ohne Ressentiments. Das hat einerseits damit zu tun, dass die Deutschen bessere Autos bauen als die Chilenen, aber mehr noch damit, dass sie mit ihrem etwas höheren Körperwuchs und „ojos azules“ eine gewisse Aufmerksamkeit seitens der chilenischen Weiblichkeit auf sich ziehen. Das war bei Gerd durchaus gegeben.
Ansonsten haben Deutsche in Chile denselben Ruf wie überall auf der Welt: ordentlich, humorlos, trinken Bier und sind gute Fußballer. Dazu kommt, dass man ihnen, nicht zu Unrecht, Naivität unterstellt. Dieser Charakterzug wird recht treffend durch die typisch deutschen Witzfiguren „Fritz y Otto“ wiedergegeben. Kostprobe gefällig?
Fritz und Otto kommen in die Hölle und müssen zwischen der deutschen und der chilenischen Abteilung wählen. Man gesteht ihnen eine Woche Probezeit zu: einer darf in die deutsche, der andere in die chilenische. Danach treffen sich beide zum Erfahrungsaustausch: „Also bei uns in der deutschen Hölle werden wir um fünf Uhr geweckt, dann gibt’s ein Bad in siedendem Öl, 100 Peitschenhiebe und anschließend Behandlung mit glühenden Mistgabeln. Und wie war’s bei dir, in der chilenischen Hölle?“ „Ach, im Prinzip genauso, nur dass die Teufel immer verschlafen, nie wird man pünktlich geweckt. Das Öl ist gerade mal lauwarm und der Typ, der uns auspeitschen soll, gibt sich keine Mühe. Ich komm lieber auch in die deutsche Abteilung!“
Weihnachtsüberraschung
Was ich besonders an meinem Freund Gerd schätze ist, dass er nie angestrengt wirkt und immer noch Luft hat für ein Extra an Charme und Stil. Dazu eine kleine Geschichte, wiederum aus der Luftfahrt. Ich war mit meiner Freundin und zwei ihrer Kinder im Flugzeug unterwegs und es gab ein Problem mit dem Motor. Das ist kein angenehmes Gefühl, schon gar nicht, wenn man solch kostbare Fracht an Bord hat. Ich versuchte, auf einem Feld zu landen, und machte drei Kreuzzeichen, als wir heil am Boden waren. Nach einiger Zeit erschien ein Reiter, der eine Einladung vom Besitzer der Hacienda brachte. Es wäre das erste Mal, dass ein Flugzeug bei ihm gelandet sei. Der Aufforderung kamen wir gerne nach.
Aber irgendwie mussten wir jetzt nach Hause kommen, und so rief ich Gerd an und bat ihn, uns da rauszuholen. „Por supuesto“ war die Antwort, selbstverständlich. Nach drei Stunden lästiger Autofahrt war er da, freundlich lachend, und hatte noch jede Menge Weihnachtsmänner aus Schokolade mitgebracht – als Geschenke für die Kinder unserer freundlichen Gastgeber. Auch daran hatte er gedacht. Es war nämlich ausgerechnet Heilig Abend.
… und hier noch eine Idee für ein gefälliges last-minute Geschenk: