published 18.02.2023
Bild: Олександр К / unsplash
Während der Monate Februar, März und April bringt THINK-AGAIN.ORG Auszüge aus dem Roman „Stärker als das Schicksal“ über das Leben eines außergewöhnlichen Mannes. Diesmal geht es um einen Lebensabschnitt, der ihn mit ersten schulischen Erfahrungen bereicherte und in engen Kontakt mit dem Zehnstreifen-Leichtfuß brachte, besser bekannt unter dem Namen Kartoffelkäfer.
Das Leben trägt Lachen und Weinen im selben Säckel
Sie haben es bemerkt, liebe Leserin, lieber Leser, in diesem Buch werden tragische und fröhliche, dramatische und drollige Ereignisse geschildert, und so werden auch meine Worte einmal respektvoll sein und dann wieder lustig oder sogar albern. Das wechselt vielleicht pro Seite ein paarmal. Aber das ist nicht meine Schuld – so ist das Leben. Es hat eben Lachen und Weinen im selben Säckel. Und noch etwas: Ich lasse des Öfteren Menschen zu Wort kommen, die klüger sind als ich, etwa Philosophen, etwa den Kanadier Jordan Peterson oder den Briten Sir Roger Scruton. Ich zolle diesen Männern Respekt, indem ich ihre Erkenntnisse verbreite, aber tue das, ohne sie jedes Mal dabei zu erwähnen.
Zurück zu unserem Helden Gerd: Die Zeiten, in denen sich seine frühe Kindheit und Jugend abspielen, sind für Menschen späterer Generation, also vermutlich für Sie, liebe Leserin, lieber Leser, nicht vorstellbar – und man kann Ihnen nur wünschen, dass es so bleibt. Als Gerd auf die Welt kam, tobte der Zweite Weltkrieg.
Hitlers Armeen vereinnahmten gerade die Nachbarländer im Westen und Norden Deutschlands. Im Krieg für das Vaterland zu kämpfen war damals, anders als es heute wäre, durchaus ehrenhaft, insbesondere solange der Kampf siegreich war.
Waren nun die Soldaten, die in diesen Krieg marschierten, alle Nazis? Waren alle Offiziere Anhänger Hitlers? Keineswegs; sie wurden ja nicht gefragt, ob sie so freundlich wären, sich am Einmarsch in Russland oder Frankreich zu beteiligen. Es war Krieg und da galt der Befehl. Und auch schon vor Beginn des Krieges gab es wenig Spielraum, um das Leben frei nach den persönlichen Vorlieben und Überzeugungen zu gestalten. Es herrschte eine sozialistische Diktatur, in welcher der einzelne nichts galt, das Volk aber alles.
Niemand soll hungern ohne zu frieren
Aber nicht nur die persönliche Freiheit war eingeengt, auch die allgemeine, alltägliche Lebensqualität war nicht vergleichbar mit der heutigen. Die heutige Familie der gehobenen Mittelklasse, in der die erwachsenen Kinder ihr eigenes Auto haben, wo man sich aussucht, an welchem Strand dieser Erde der nächste Urlaub stattfinden soll und ob man lieber chinesisch isst oder zum Italiener geht, die lebt so, wie es zu jener Zeit nur wenigen Millionären vergönnt war.
Schon zu Friedenszeiten wären damals die Ansprüche von heute nicht erfüllt worden. Jetzt aber herrschte Krieg, und jeder musste sein Bestes für den Sieg opfern. Da wurde dann auch das Essen knapp, und statt Fleisch gab es Kartoffeln, und heizen konnte man auch nicht. Aus dem Propaganda-Slogan „Niemand soll hungern oder frieren“ machte die Bevölkerung in ihrem Galgenhumor den Spruch: „Niemand soll hungern ohne zu frieren.“
In diese Welt also war Gerd im Oktober 1940 hineingeboren worden. Er war das dritte Kind. Es gab schon die zehnjährige Marianne und einen sechsjährigen Bruder Heinz. Als Gerd anderthalb war, verstarb die Mutter an den Folgen einer Fehlgeburt, als keine ärztliche Hilfe geholt werden konnte. Nun war es an der Schwester, die Familie durchzubringen.
Man lebte in einem mehrstöckigen Haus in Hannover, im nördlichen Deutschland. Es war das Haus des väterlichen Großvaters, eines Katholiken; dieses Detail wird später noch von Bedeutung sein. Im Erdgeschoss wurde ein Molkereigeschäft betrieben, in den übrigen Etagen des Hauses wohnten die Familien der Kinder des besagten Großvaters. Das hört sich zunächst beruhigend an, aber Hilfe seitens der Verwandtschaft war spärlich. Jeder war damals vollauf mit dem eigenen Überleben beschäftigt. Es war 1942 und deutsche Soldaten kämpften und starben an der russischen Front in Stalingrad, und auch zu Hause musste man um seine Existenz bangen.
Ein Engel namens Else
Wo war denn der Vater von Gerd und seinen zwei Geschwistern? Wo war Alois Kalbhenn? Er war als Schweißer in einer LKW-Firma beschäftigt, die jetzt Panzer herstellen musste. Hier war seine Expertise so gefragt, dass man ihn interniert hatte; er arbeitete, lebte und schlief in der Fabrik und sah die Familie nur an Feiertagen.
Als die zuständigen Behörden auf die prekäre Situation der drei mutterlosen Geschwister in dem großen Haus in Hannover aufmerksam wurden, trennte man sie und verteilte sie auf unterschiedliche Waisenhäuser. Gerd landete 30 km südlich von Hannover in der Stadt Hildesheim, in einem Gebäude, das direkt an den Dom grenzte und welches wenige Jahre später von der britischen Luftwaffe bombardiert werden sollte …
Was nun soll ein Vater tun, der seinen vierjährigen Sohn gerade unter den Trümmern eines zerbombten Waisenhauses ans Licht der Welt gezogen hat und dessen Zuhause eine Panzerfabrik ist? Er bringt den Kleinen in ein anderes Waisenhaus, das noch nicht zerbombt ist, und hofft, dass er dort jetzt überleben wird.
In der total zerstörten Stadt Hannover stand noch solch ein Hort, der dann auch während der restlichen Wochen des Krieges von Bombern verschont blieb. Damit aber waren Sicherheit und Wohlergehen nicht garantiert. Der Mangel an den notwendigsten Dingen war hier so extrem, dass das Überleben der Kinder keineswegs gegeben war. Es fehlte an Lebensmitteln, an elementarer Hygiene und an medizinischer Versorgung.
Das hatte zur Folge, dass fast alle Kinder von einer sehr unangenehmen und ansteckenden Hautkrankheit befallen waren, die mitnichten spontan ausheilte, sondern zu weiteren Infektionen führte und die den Opfern das Leben zur Hölle machte.
Gerd wurde nicht verschont, und so muss er auf Tante Else einen schreckenerregenden Eindruck gemacht haben, als diese zu Besuch kam. Else war eine Schwester von Gerds verstorbener Mutter, und sie war von der Schicksalsgöttin im richtigen Moment ins Hannoveraner Waisenhaus geschickt worden. Sie fühlte sich für den inzwischen Siebenjährigen in seinem erbärmlichen Zustand verantwortlich, befreite ihn aus der verseuchten Hölle und nahm ihn mit zu sich aufs Land.
Zuerst ging es an die Behandlung von Gerds Krankheit – mit sehr schmerzhaften, aber wirksamen Hausmitteln. Ja, einen Arzt gab es auch hier im Dorf nicht, dafür gab es zu essen.
Ein privilegierter Onkel
Tante Else war mit einem Mann aus einem Berufsstand verheiratet, der schon immer privilegiert war, insbesondere aber jetzt, in der kargen Nachkriegszeit: Er war Land- und Gastwirt. Tante Else wiederum unterhielt mit viel Sorgfalt und Erfolg den Obst- und Gemüsegarten des Hauses. Und sie erntete genug, um ihre Ware auf den Markt in der nachbarlichen Stadt Bremen anzubieten. In diesem Hause brauchte man also nicht zu hungern, aber wie wir noch sehen werden, waren Speis und Trank nicht umsonst.
Mit seinen sieben Jahren war Gerd jetzt schulpflichtig. Der Krieg war seit zwei Jahren vorüber, aber es würde noch dauern, bis das Land wieder notdürftig aufgebaut wäre, wenngleich das dann beeindruckend schnell gehen sollte – ein Prozess, der später als „Wirtschaftswunder“ gelobt wurde.
Jetzt aber hatten wir das Jahr 1947 und die schulische Infrastruktur in Tante Elses Dorf war noch sehr einfach. Es gab nur einen Lehrer, die anderen waren entweder im Krieg gefallen oder sie waren als ehemalige Nazis identifiziert worden und im Gefängnis gelandet. Dieser eine Lehrer unterrichtete nun die ersten drei Klassen der Volksschule synchron im gleichen Raum. Jeder Klasse wurden pro Stunde 20 Minuten gewidmet.
Die Zeit nach dem Unterricht stand aber keineswegs für Spaß und Spiel zur Verfügung. Gerd wurde erbarmungslos zur Arbeit in des Onkels Landwirtschaft eingesetzt, und zwar zu Tätigkeiten, die er in dem Alter gerade schon schaffen konnte.
Ein Nachmittag auf dem Kartoffelacker
Eine besondere Plackerei war die Arbeit auf den Kartoffeläckern. Zunächst ging es darum, die Pflanzen von den Kartoffelkäfern zu befreien, bevor diese sie auffraßen. Der lateinische Name des Bösewichts, „Leptinotarsa decemlineata“, bedeutet „Zehnstreifen-Leichtfuß“. Falls Sie ihn nie persönlich kennengelernt haben, es handelt sich um einen 7 bis 15 Millimeter langen Gesellen mit einem Gewicht von 50 bis 170 Milligramm. Er ist gelb und längs der Flügeldecken ziehen sich dunkle Streifen. Wie viele das sind, das habe ich Ihnen ja schon verraten. Bei Gefahr kann der Kerl ein unangenehm schmeckendes Wehrsekret ausscheiden. Bleiben Sie ihm also lieber fern.
Diese klebrigen Kreaturen galt es nun zu Tausenden von den Blättern der Kartoffelstauden zu klauben. Heute wird diese in jeder Hinsicht erniedrigende Arbeit von der Chemie erledigt. Bevor Sie also das nächste Mal an einer Demo gegen Insektizide in der Landwirtschaft teilnehmen, sollten Sie sich eine Woche Abenteuerurlaub beim Käferklauben gönnen.
Später dann ging es daran, die Kartoffeln zu ernten. Das ist wenig romantisch, denn die Dinger hängen ja nicht im Morgenlicht an den Ästen eines wunderbaren Baumes, so wie Äpfel oder Kirschen, nein, sie gedeihen unter der Erde und können daher nicht gepflückt werden, man muss sie ausgraben. Dazu begibt man sich rittlings auf den entsprechenden Gebirgszug zwischen zwei Ackerfurchen und buddelt vor sich hin.
Trotz allem war die Zeit bei Wohltäterin Tante Else und ihrem gestrengen Gatten vom siebten zum zwölften Lebensjahr eine Phase, in der die Seele von Gerd etwas Frieden finden konnte. Tante Else hatte ihm gegönnt, was er – bewusst oder unbewusst – so sehr vermisst hatte: ein Zuhause.
UND HIER EIN FREUNDLICHER GESCHENK-TIPP