published 25.02.2023
Bild: Luis Feliciano
Während der Monate Februar, März und April bringt THINK-AGAIN.ORG Auszüge aus dem Roman „Stärker als das Schicksal“ über das Leben eines außergewöhnlichen Mannes, der als Teenager im Kloster landete, wo er aber nicht für immer bleiben sollte.
Der Dreißigjährige Krieg
Diese Zeit bei Tante Else sollte die einzige behütete Epoche seiner Kindheit bleiben. Denn über dieser scheinbaren Idylle schwebte ein Konflikt, der das Leben in Deutschland seit dem siebzehnten Jahrhundert, seit dem Dreißigjährigen Krieg belastete. Es war der Streit zwischen Katholiken und Protestanten über die richtige Auslegung der Heiligen Schrift. Die wunderbare christliche Lehre war zu einem politischen Zankapfel geworden und ihre zentrale Botschaft von Frieden und Nächstenliebe war entartet zu einer Orgie aus Hass und Morden.
Und sogar noch 300 Jahre später, auch während der Zeit, als das Leben der Menschen durch den fürchterlichen Weltkrieg bedrängt und bedroht war, auch zu dieser Zeit fand man noch aggressive Kraftreserven, um den uralten Streit weiter auszutragen, auch auf dem Rücken unschuldiger Kinder.
Eines davon war unser Gerd. Er war inzwischen zwölf Jahre alt und gemeinsam mit der geliebten Tante Else vom Häuschen auf dem Land in die Großstadt Bremen gezogen. In diese friedliche Welt brach eines Tages, wie ein Gewitter an einem milden Sommerabend, sein Vater Alois herein. Er war gekommen, um seinen Sohn zu sich zu holen.
Das wäre an sich ein legitimes Anliegen gewesen, wäre es darum gegangen, dem Sohn ein besseres Zuhause zu bieten oder eine bessere Ausbildung. Das aber war nicht das Motiv. Alois Kalbhenn konnte es nicht mit ansehen, wie sein Fleisch und Blut, der Spross eines erzkatholischen Mannes, in einem protestantischen Hause aufwuchs.
Gerds verstorbene Mutter und deren Familie kamen aus Norddeutschland, wo man traditionell protestantisch war. Tante Else, die Schwester der Mutter, war natürlich auch Protestantin. Der Vater aber stammte aus einer kleinen Enklave in Hannovers Stadtteil Döhren, wo man sich, umgeben von Andersgläubigen, den katholischen Glauben bewahrt hatte. Dieser Unterschied in den Konfessionen hatte die Beziehungen zwischen den beiden Familien schon immer belastet. Doch dieser letzte, unbarmherzige und undankbare Akt gegenüber Sohn und Schwägerin zerschnitt das letzte Band, welches die Verwandtschaft noch zusammenhielt. Nach diesem Drama wurde zwischen den beiden Seiten kein Wort mehr gewechselt.
Der Vater hatte nach dem Krieg wieder geheiratet und lebte mit seiner neuen Frau und zwei gemeinsamen Kindern in dem eingangs erwähnten Haus in Hannover. Hier waren während des Krieges noch mehr Bomben gefallen als in Bremen, wo Gerd die letzten Jahre verbracht hatte. In dieser zerbombten, feindseligen Umgebung also musste sich der Zwölfjährige wieder neu einleben – zum wievielten Male in seinem kurzen Leben?
Der Vater stellte ihm seine neue Frau mit den knappen Worten vor: „Sie ist ab jetzt deine Mutter.“
Das neue Leben war die Hölle. Der Vater schlug ihn bei jeder Gelegenheit – damals war das eine akzeptierte Form der Erziehung –, und Gerd lief wieder und wieder von zu Hause weg, um sich vor den Schlägen in Sicherheit zu bringen. Da man in einem der oberen Stockwerke wohnte, fand das Weglaufen bergab über mehrere Treppenabsätze statt, sodass sich Gerd zwangläufig eine gewisse Perfektion in dieser Disziplin aneignete. Es war eine Kombination von Gleiten auf dem Geländer und Überspringen möglichst vieler Stufen. Da kam ihm der Vater nicht nach; Gerd war zwar nicht der Größte, aber er war der Schnellste.
Doch auch in dieser Sportart gab es Spielverderber. Einer seiner Cousins, der ein paar Stock tiefer wohnte, fing ihn bei einem seiner Fluchtversuche ab und schlug ihm voll ins Gesicht – ja, so ist die Liebe in der Großfamilie.
Kein Hauch von Luxus
Die stark religiöse Ausrichtung des Vaters führte zu dessen Wunsch, dass sein Sohn Gerd Priester werden sollte, und daher sah er zumindest eine seiner Tätigkeiten mit gewissem Wohlwollen, nämlich sein Engagement als Ministrant bei der katholischen Kirche in Hannover.
Ein Ministrant ist ein junger Christ ohne jegliche Weihen, der während der Messe beim Aufschlagen des heiligen Buches assistiert, der in entscheidenden Momenten die Altarglocken läutet und beim Hantieren des Kelchs mit den geweihten Hostien hilft. Es ist eine harmlose Aufgabe, die einem Lausbuben Augenblicke der Prominenz verschafft, wenn er im Angesicht der zahlreichen Gläubigen in feierlichem Gewand und in nächster Nähe zum Allerheiligsten seine kleinen Aufgaben erledigt.
Gerd wurde dann auch Messdiener, was ihm Gelegenheit verschaffte, Momente allein am Altar zu verbringen, Momente, die er nutzte, um seinen Herrgott zu fragen, warum der ihn so hart bestrafte.
Um ihn auf seiner religiösen Laufbahn zu beschleunigen, schickte ihn die Kirche für ein halbes Jahr nach Rosshaupten, einem Ort an der Südgrenze Deutschlands gelegen, nahe an den Alpen. Dort wohnte er bei einer erzkatholischen Familie, die zu der Hannoveraner Pfarrei Kontakt hatte. Gerd fühlte sich dort durchaus wohl – nicht wegen der heiligen Atmosphäre, die dort herrschte, sondern weil er weg von zu Hause war. Die Zeit ging schnell zu Ende, und es ging wieder zurück nach Hannover.
Kaum zurück in der Schule kam Besuch von zwei hohen katholischen Würdenträgern: dem Bischof und dem Direktor eines sehr angesehenen Priesterseminars vom Orden der „Maristen“, in der Stadt Meppen gelegen, westlich von Bremen und nahe der Grenze zu Holland. Der Ordensmann war nicht mit leeren Händen gekommen. In seinem Gepäck hatte er zwei Stipendien, die an interessierte und begabte Schüler vergeben werden sollten.
Gerd bewarb sich, und wieder einmal hatte die Schicksalsgöttin ihre Hand im Spiel und sorgte dafür, dass er ausgewählt wurde.
Im Priesterseminar Meppen bei den Maristen erlebte Gerd zum ersten Mal, dass es eine Welt gab, in der kein Mangel herrschte. Auch wenn die extreme Armut, die sein Leben in den Waisenhäusern und davor bestimmt hatte, allmählich überwunden war, so war man doch in vieler Hinsicht auf Notlösungen angewiesen. Im Kloster hingegen war alles vorhanden, was man brauchte, und mehr. Es gab alles, um Sport, Studium und das tägliche Leben in perfekter Qualität abzuwickeln, wenn auch ohne den geringsten Hauch von Luxus. Die katholische Kirche bot ihre Einrichtungen all jenen, die bereit waren, in bedingungslosem Gehorsam und strengster Disziplin den Regeln des Hauses zu folgen.
Nicht nur Lagerfeuer und Guitarre
Wie wir noch sehen werden, würde unser Held diesen Ansprüchen nicht zu 100 % gerecht werden – ein Umstand, der seinen Aufenthalt im Schoße der Kirche auf ein halbes Jahr begrenzte. Aber dazu später mehr.
Im Kloster herrschte ein spartanisch-militärischer Tagesablauf auf christlichem Fundament. Es begann mit kalten Duschen um fünf Uhr morgens und endete mit Gottesdienst um acht Uhr abends. Der Zeitraum dazwischen war minutiös geplant. Das zwang die Seminaristen dazu, ihre Freiheiten in der Nacht zu suchen, indem sie auf geheimen Wegen das Kloster verließen, um in nachbarlichen Dorfkaschemmen das Tanzbein zu schwingen.
Die anderen Jungs machten Gerd das Leben nicht einfach. Sie verlachten ihn wegen seiner Kindheit im Waisenhaus und schikanierten ihn aus jedem sich bietenden Anlass. Dort und damals wurden solche Opfer nicht von einer gutherzigen Lehrerin oder dem Schulpsychologen in Schutz genommen, sie mussten sich selbst ihrer Haut erwehren. Das zu lernen hatte Gerd viele Gelegenheiten. Er lernte Prügel einzustecken und auszuteilen und erfuhr, dass man dabei nicht umkommt. Es war eine sehr wichtige Lektion für den Rest seines Lebens, wo er noch viele Kämpfe zu bestehen haben würde.
Boxen war aber nicht die einzige Leibesübung, die man dort praktizierte, und Gerd beteiligte sich sehr aktiv an anderen Sportarten, die auf dem Programm standen. Insbesondere in Leichtathletik zeigte er Spitzenleistungen, wobei ihm seine zentrale Grundeinstellung aus den ersten Lebensjahren sehr zugutekam. Sein Motto war und blieb für immer: „Aufgeben kommt nicht infrage.“
Leistungssport und Kämpfe mit Schlägern aus anderen Klassen waren Erfahrungen, die Gerds Charakter in seinen jungen Jahren formten. Und als wäre das nicht genug, so ergänzte er diese Bewährungsproben noch durch ein weiteres Paket an Selbsterziehung: Er ging zu den Pfadfindern.
Dem oberflächlichen Betrachter fallen zu dem Thema vielleicht Lagerfeuer, Gitarre und blaue Halstücher ein. Dass aber wesentlich mehr dazu gehört, das zeigt das Gelübde, welches jeder Pfadfinder ablegen muss: Er darf Schwierigkeiten nicht ausweichen, muss den anderen achten, muss Verantwortung übernehmen sowie hilfsbereit, zuverlässig, aufrichtig und rücksichtsvoll sein. Dazu muss er noch dem Frieden dienen und sich für die Gemeinschaft einsetzen.
Diese Anforderungen passen gut zu Gerds Grundbedürfnis, nämlich an sich selbst zu arbeiten; so als wäre er ein Bildhauer, der sich selbst aus einem rohen Block Granit herausmeißelt. (Diese Vorstellung ist übrigens das Leitbild der Freimaurer, denen Gerd viel später kurz angehörte, bis er erkennen musste, dass auch er nicht genug Zeit hat, um alles zu machen.)
Den ersten Satz des Pfadfinder-Gelübdes würde Gerd bald in harter Wirklichkeit erfüllen. Eine Gruppe von Jungs war unterwegs und vielleicht tatsächlich damit beschäftigt, einen „Pfad zu finden“, als sich ihnen ein ziemlich hoher Zaun mit sehr spitzen Pfählen in den Weg stellte. Getreu dem Schwur, Schwierigkeiten nicht auszuweichen, machte sich Gerd daran, über das Hindernis zu klettern.
Dabei rutsche er aber irgendwie ab, und einer der besagten Pfähle bohrte sich in seinen Oberschenkel. Da floss das Blut in Strömen, und Gerd war so unglücklich eingeklemmt, dass er sich kaum bewegen konnte. Wie reagierten die Kameraden in der Gruppe? Bei einem Kratzer am Bein hätten sie sicherlich ihre pfadfinderische Hilfsbereitschaft gezeigt, aber dieses Malheur war ihnen eine Nummer zu groß. Sie rannten voller Angst und Schrecken davon und ließen Gerd buchstäblich „im Stich“!
Der konnte sich schließlich, nach Verlust von weiteren Blutvolumina, aus seiner prekären Zwangslage befreien und am Boden angelangt den Umfang seiner Verletzung wahrnehmen. Wie der Zufall – oder die Verpflichtung „immer bereit“ zu sein – es wollten, Gerd fand eine Bandage in der Hosentasche und konnte damit eigenhändig die Wunde verbinden und das Bluten eindämmen. Mit letzter Kraft schaffte er es ins Seminar, wo man ihn sofort ins Krankenzimmer legte und behandelte. Am nächsten Tag bekam er die Quittung für sein Abenteuer.
Held für einen Tag
Im Seminar gab es ein Ritual, das dazu diente, besondere Leistungen zu belohnen oder besondere Verfehlungen zu ahnden. Es bestand darin, dass der Held oder Delinquent beim Mittagsmahl besonders zur Schau gestellt wurde. Er saß dann, als einziger Schüler, gemeinsam mit den Pfarrern, an deren großem Esstisch, der an der Stirnseite des Speisesaals auf einem erhobenen Podest stand. Von dort aus würden dann die guten oder schlechten Taten des jeweiligen Kandidaten geschildert und entsprechend gelobt oder getadelt.
Auf diesem Platz also landete Gerd am nächsten Tag, und er wurde für seine Bereitschaft und Selbstständigkeit vor allen gepriesen. Das gewann ihm natürlich Respekt bei den Jungs, und die wussten jetzt, mit welchem Kaliber sie es zu tun hätten, wenn man sich mit ihm anlegte.
Den Maristen blieben Gerds sportliche und kameradschaftliche Leistungen nicht verborgen. Was ihnen aber auch nicht verborgen blieb, war sein Desinteresse am eigentlichen Ziel seines Aufenthalts im Seminar, nämlich der Ausbildung zum Pfarrer. Ja, seine Leistungen in Latein und Theologie ließen sehr zu wünschen übrig. Wie ernsthaft war nun sein Interesse und das seiner Familie an der geistlichen Laufbahn überhaupt? Die Leitung des Hauses stellte Gerds Entschlossenheit auf die Probe. Für das nächste Semester müsste er jetzt einen Beitrag von 10 Mark aufbringen, während bislang alle Kosten durch das Stipendium gedeckt waren.
Diese Summe konnte er nicht organisieren, weder beim Vater noch bei dessen katholischer Verwandtschaft. Und so kam sein Aufenthalt bei den Maristen zu einem plötzlichen Ende. Ich glaube aber, dass diese Zeit dennoch wichtige Spuren in ihm hinterlassen hat.
Gerd sollte also nicht zum Priester geweiht werden. Seinen Grundsatz „Aufgeben kommt nicht infrage“ hat er in diesem einen Fall ausnahmsweise ignoriert. Wie ich ihn einschätze, könnte das damit zu tun gehabt haben, dass ihm schon in seinen jungen Jahren die Vorstellung eines Lebens ohne Frauen nicht so recht gefiel.
UND HIER EIN FREUNDLICHER GESCHENK-TIPP